Agrarpolitik: Wir müssen über Kalorien reden
Wo kommen die Nahrungsmittel her, die in der Ukraine jetzt nicht angebaut werden können? Und welche Agrarstrukturen sind sinnvoll? Beide Fragen sind wichtig – aber man sollte sie nicht vermischen.
Im Ausland Erfahrungen sammeln, bevor man sich zu Hause beruflich etabliert: Auch viele junge Landwirt:innen nutzen heute diese Möglichkeit. Hoch im Kurs stehen vor allem Länder, in denen Englisch gesprochen wird – und wo grosse Maschinen im Einsatz sind: Kanada, die USA und Neuseeland.
Auf den grossen Maschinen sitzen heute oft nicht mehr jene, die das Land besitzen oder gepachtet haben. Sogenannte Lohnunternehmen mit eigenem Personal bieten Säen, Ernten und Dreschen als Dienstleistung an. So muss die Landwirtin keine Maschinen kaufen, die sie nur wenige Tage im Jahr braucht. In der Zeitung «Schweizer Bauer» berichtete kürzlich ein junger Schweizer von seinem Einsatz bei einer «custom harvest crew» in den USA: in einem halben Jahr durch zwölf Bundesstaaten, von Oklahoma nach North Dakota, immer den Ernten nach. Er beschreibt Zwanzigstundentage und Ortswechsel in der Nacht: Verladen bis Mitternacht, Losfahren um vier Uhr morgens, dauernd angetrieben vom Chef. Dann wieder tagelanges Warten auf gutes Wetter, «im Camper, inmitten von Niemandsland», sieben Stunden Fahrt für ein Ersatzteil, bei der Sonnenblumenernte «das ständige Risiko, aufgrund des öligen Staubes Feuer zu fangen». 680 Stunden habe er auf dem Drescher verbracht, 4200 Hektaren abgeerntet, schreibt er am Schluss stolz. «Die Sonnenaufgänge über dem schier endlosen Horizont entschädigten jeweils für den Stress und den wenigen Schlaf.» Es klingt, als versuche er mit aller Kraft, einer verstörenden Erfahrung etwas Positives abzugewinnen.
Wirklich begeistert scheinen die wenigsten aus Nordamerika oder Neuseeland zurückzukommen – der Vergleich setzt vielmehr unter Druck: Die produzieren viel schneller, effizienter und billiger als wir. Die Rationalisierung treibt die Weltmarktpreise nach unten und führt dazu, dass Bäuer:innen in den meisten Teilen der Welt nur noch mit staatlicher Unterstützung leben können – oder aufhören. Aber eine Alternative zu dieser Entwicklung scheint nicht denkbar.
Der Dünger ist auch Sprengstoff
Die industrielle Landwirtschaft hat historisch viel mit Krieg zu tun. Zum einen sehr direkt: Ammoniumnitrat, einer der wichtigsten Bestandteile von synthetischem Stickstoffdünger, ist zugleich ein Sprengstoff – der 2020 den Hafen von Beirut in die Luft fliegen liess. Und auch indirekt: Die Erfahrung der Lebensmittelknappheit am Ende des Ersten Weltkriegs prägte nach dem Zweiten die Agrarpolitik in Europa. Man intensivierte die Produktion mithilfe von fossiler Energie mit dem Ziel, den Mangel für immer hinter sich zu lassen – und war bald überfordert mit Überschüssen.
Jetzt, wo der Krieg im Bewusstsein der Westeuropäer:innen zurück ist und sich Knappheit abzeichnet, scheinen die Antworten von damals wieder aktuell. «Lebensmittel produzieren statt Schmetterlinge zählen», forderte die SVP auf Twitter: Die Schweiz müsse aufhören, «mit unsinnigen Ökoprojekten die einheimische Landwirtschaft weiter zu schwächen». Auch die – ziemlich zaghafte – Ökologisierung der EU-Agrarpolitik solle gestoppt werden, fordern europäische Bauernverbände.
Wo kommen die Kalorien her? Diese Frage drängt tatsächlich, und es rächt sich nun, dass sich die SP (im Gegensatz zu den Grünen), die Grünliberalen und die Umweltverbände kaum damit beschäftigt haben. Der Nachschub galt als gewährleistet, die Landwirtschaft als veraltete, renitente Branche. Die Umweltverbände redeten von Biodiversität und Landschaftsqualität, aber nur selten davon, wie sie sich sinnvoll mit Kalorienproduktion verbinden liessen. Und sie scheuten sich nicht, mit Neoliberalen zusammenzuarbeiten: 2012 etwa, als Economiesuisse und die Agrarallianz, der Dachverband von ökologischen Landwirt:innen und Umweltorganisationen, gemeinsame Briefe an Ständerät:innen schickten, um für die Abschaffung der Direktzahlungen für die Tierhaltung zu werben.
Weder Industrie noch Dienstleistung
Dabei war absehbar, dass es Economiesuisse nicht um Ökologie ging, sondern nur um die Auslagerung von Kosten. Die SVP, die so viel wie möglich produzieren will und dabei Biodiversitäts- und Klimaschutz als lästigen Luxus sieht, betrachtet die Landwirtschaft als Industrie. Die Ökoliberalen betrachten sie als Dienstleistung, die schöne Landschaften erhält, während der Grossteil der Kalorien aus günstigeren Ländern kommt. Im Grunde basieren beide Vorstellungen auf dem gleichen zerstörerischen Modell. Über hundert Jahre lang haben die dominierenden Strömungen in Politik und Agrarwissenschaften versucht, aus der Ernährungsfrage eine rein technische Angelegenheit zu machen. Genau dieser kalte Zugang, der die Welt als Ansammlung von ausbeutbaren Ressourcen betrachtet, stösst heute an Grenzen.
Denn Landwirtschaft ist weder Industrie noch Dienstleistung. Sie ist abhängig von Bodenqualität und Wasser, den Jahreszeiten und der Reproduktion der Lebewesen. Mit den enormen fossilen Inputs ab den fünfziger Jahren schien sie endlich «effizient» zu werden. Die Folgen kennen wir heute: Böden erodieren; Pestizide bedrohen Tiere, Pflanzen und Trinkwasser; und die Arbeit ist in vielen Ländern zum eintönigen Fahrerjob geworden – wenn nicht sogar Bedingungen nahe an der Sklaverei herrschen. Aber weil kaum mehr jemand über den Unterschied zwischen Nahrungsproduktion und Industrie nachdenkt, gilt die Landwirtschaft in der Schweiz heute vielen als eine der grossen Verschmutzerinnen, als Umweltproblem an sich.
Weniger Landwirtschaft würde in dieser Logik weniger Umweltverschmutzung bedeuten. Das löst aber gar nichts, denn es braucht in vieler Hinsicht nicht weniger: zwar weniger fossile Inputs, aber mehr menschliche Arbeit. Weniger Tiere, aber nicht weniger, sondern vielfältiger genutzte Flächen. Und weniger tierische, aber mehr pflanzliche Esswaren. Die wichtigsten Hebel, um mehr Kalorien produzieren zu können, ohne die Umwelt auszubeuten, sind weniger Fleisch und weniger Foodwaste. Dank der vielen Agrarinitiativen der letzten Jahre ist diese Erkenntnis in der breiten Bevölkerung angekommen.
Importabhängigkeit vermindern
«Wo kommen die Kalorien her, die die Ukraine dieses Jahr nicht produzieren kann?» ist eine ganz andere Frage als «Welche Agrarstrukturen sind sinnvoll?». Ebenso die Rolle des Handels: Kurzfristig ist es essenziell, dass die Produktionsländer weiter exportieren, damit die Menschen in den Importländern Essen kaufen können. Langfristig tut es aber not, die heutigen Handelsstrukturen zu hinterfragen: Viele Länder, gerade in Afrika, sind nicht deshalb so stark von Importen abhängig, weil bei ihnen nichts wächst, sondern wegen Dumpingimporten: So haben EU-Poulets in Westafrika die Hühnerhalter:innen ruiniert, und industriell produzierter Reis aus China ist billiger als der regionale (siehe WOZ Nr. 8/2022 ).
Es gibt einen Zusammenhang zwischen ausgeräumten Landschaften, Handelsstrukturen, die zu Foodwaste führen, zerstörter Biodiversität und unerträglicher Arbeit. Die SVP und andere, die auf Maximalerträge setzen, haben auf all diese Fragen keine Antworten. Eine Antwort wäre, Agrarstrukturen zu entwickeln, von denen viele Menschen gut leben können – und in denen auch Tiere und Pflanzen gut leben: die wilden und die domestizierten.