Wahlen in Serbien: Ein Land im West-Ost-Spagat

Nr. 14 –

Präsident Aleksandar Vucic weigert sich, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, dabei ist sein Land seit zehn Jahren EU-Beitrittskandidat. Eine Suche nach den Ursachen – von Belgrad bis ins Presevotal im Süden.

Zweite Amtszeit gesichert: Präsident Aleksandar Vucic bei einem Wahlkampfauftritt in Nis.

Es ist Sonntagabend, als Serbiens Präsident Aleksandar Vucic eine Flasche Schaumwein bringen lässt. Er steht, umgeben von jubelnden Anhänger:innen und Fernsehkameras, in der Parteizentrale in Belgrad. Die staatliche Wahlkommission hat das offizielle Ergebnis noch nicht verkündet. Aber Vucic will nicht warten. «Warum die Herrschaften um elf Uhr abends nicht arbeiten wollen, aber wir schon, das ist eine andere Frage», sagt er. Dann ruft er sich selbst zum Sieger aus, ohne das offizielle Wahlergebnis, das erst 24 Stunden später eintrudelt, abzuwarten.

An Vucics Sieg hat niemand gezweifelt, am allerwenigsten er selbst.

Expropagandaminister

Vier Tage vor der Wahl steht er in der Sporthalle von Nis, der drittgrössten Stadt Serbiens, rund 230 Kilometer südlich der Hauptstadt. Die Halle stammt aus der Zeit Jugoslawiens, des sozialistischen Vielvölkerstaats, der in den neunziger Jahren in blutigen Kriegen auseinanderbrach. Vucic arbeitete damals als Informationsminister für jenen Mann, der massgeblich für die Kriege verantwortlich war: Slobodan Milosevic. Mittlerweile will sich Vucic vom Ultranationalisten zum Proeuropäer gewandelt haben. Er betont, sein Land in die EU führen zu wollen, pflegt aber gleichzeitig enge Beziehungen zu Russland.

Die Halle in Nis fasst bis zu 6500 Menschen, und heute Abend platzt sie aus allen Nähten. Konfetti regnet von der Decke, Menschen schwingen Fahnen und Luftballons. «Unser Limit sind unsere Träume» steht auf einem Banner. Nicht minder ambitioniert sind die Pläne von Vucic, des zwei Meter grossen Mannes mit Brille, der dem Fahnenmeer zuwinkt. «Ich werde traurig sein», sagt er, «wirklich sehr traurig, wenn ich nicht sechzig Prozent bekomme.»

Die Wahlkampfrede ist die letzte Station unserer acht Tage langen Reise durch Serbien, das Balkanland mit sieben Millionen Einwohner:innen, das vergangene Woche vorgezogene Wahlen (vgl. «Serbiens Superwahltag» im Anschluss an diesen Text) abgehalten hat. Schon lange nicht mehr stand Serbien derart im Mittelpunkt. Der Grund: Es gehört zu den wenigen Ländern Europas, die sich weigern, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Nirgendwo in Europa findet Wladimir Putin eine solche Zustimmung. Umfragen zufolge sieht eine Mehrheit der Bevölkerung Russland als wichtigsten Alliierten des Landes. Die EU landet mit nur elf Prozent Zustimmung auf Platz vier – hinter China und der Türkei. Dabei ist Serbien seit zehn Jahren EU-Beitrittskandidat. Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Und wohin steuert Vucic, der in Serbien den Grossteil der freien Presse gekapert hat, das Land? Richtung Moskau oder Richtung Brüssel?

«Fuck, fuck Nato-Pakt!»

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, muss man ins Jahr 1999 zurückblicken. Damals bombardierte die Nato – ohne Mandat des Uno-Sicherheitsrats – das sogenannte Restjugoslawien, also das heutige Serbien, Montenegro und den seit 2008 unabhängigen Kosovo. Der Westen, federführend die USA, wollten den ethnischen Massakern an den Albaner:innen und den Massenvertreibungen Einhalt gebieten. Moskau stand damals auf der Seite Belgrads und verhinderte durch sein Veto im Uno-Sicherheitsrat die Legitimierung des militärischen Eingreifens. Das ist ein Grund, warum Putin in Serbien populär ist. Ganz nach dem Motto: Der Feind unseres Feindes ist unser Freund. Die Bomben rissen nicht nur Brücken und Gebäude ein, sie zerstörten auch das Vertrauen vieler Serb:innen in den Westen.

«Volkspatrouillen»: Die rechtsextreme Organisation führt eine Anti-Nato-Demonstration an.

Die Luftschläge dauerten 78 Tage. Sie begannen am 24. März, und bis heute ist das Datum für viele ein Gedenktag. Es ist aber auch ein Anlass, um zu prorussischen Protesten aufzurufen. Es ist schon dunkel, als sich an diesem Tag gegen 20 Uhr eine Menschentraube im Zentrum von Belgrad bildet: Uniformierte, Frauen mit dünnen Kerzen in der Hand, Pensionisten mit Putin-T-Shirts, maskierte Hooligans mit bengalischen Feuern, Nationalisten mit Fahnen. Einige tragen das «Z» auf der Brust oder auf dem Arm: das Symbol von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ihr Anführer ist fast zwei Meter gross, ein früherer Basketballspieler mit schwarzer Lederjacke, kurz rasierten Haaren und einem Mikrofon in der Hand. Er steht auf dem Dach eines alten Fiat Panda, vor ihm Hunderte Menschen. Damnjan Knezevic ist 33 Jahre alt und der Anführer einer ultrarechten Organisation namens «Volkspatrouillen». Er geht gegen die angebliche «Überfremdung» durch Migrant:innen auf die Strasse und gegen die Coronaimpfung. Heute gedenken er und seine Anhänger:innen der Nato-Bombardements vor 23 Jahren. Sie wollen eine Schweigeminute abhalten. Vor der russischen Botschaft.

«Serben, Russen. Brüder für immer», rufen sie. Und: «Fuck, fuck Nato-Pakt!» Knezevic selbst wollte als Rettungssanitäter in den Donbass ziehen, aufseiten der prorussischen Separatisten. Sanktionen gegen Moskau sind für ihn undenkbar: «Wenn Vucic sie verhängt, dann werden wir Belgrad anzünden!», droht er.

Knezevic steht am äussersten rechten Rand der serbischen Gesellschaft. Er bezeichnet die ukrainische Regierung als «Regime» und glaubt, dass westliche Medien gezielt die Unwahrheit über Russland verbreiten. Knezevic ist nicht die Norm in Serbien, einem Land, in dem viele Menschen ihr tiefstes Mitleid mit den aus der Ukraine Geflüchteten aussprechen. Und dennoch steht er für ein weitverbreitetes Phänomen: die tiefe Skepsis gegenüber der Nato, ausgelöst durch die Luftschläge vor 23 Jahren.

«Wie ein Körper ohne Herz»

Im südserbischen Nis, nahe dem Flughafen, steht seit 2012 ein Zentrum für Katastrophenhilfe. Es nennt sich: Russisch-serbisches Humanitäres Zentrum. Seit Jahren ranken sich Gerüchte um diesen Ort. Angeblich soll es ein heimliches Spionagezentrum Russlands auf dem Balkan sein. Moskau hat das wiederholt dementiert. Kein Geheimnis ist, dass Russland und Serbien in der Vergangenheit gemeinsame Militärübungen abgehalten haben – unter dem Namen «Slawischer Schutzschild». Serbien gilt als Russlands wichtigster Verbündeter auf dem Balkan. Moskau macht sich in Belgrad auch deswegen beliebt, weil es die Staatswerdung des Kosovo mit seinem Veto im Uno-Sicherheitsrat blockiert.

Keine fünf Gehminuten vom Russisch-serbischen Zentrum entfernt liegt das Möbelgeschäft von Mica Stojanovic, umgeben von Autowerkstätten und Industriehallen. Über dem Eingang steht «Casa Bella», weil sein Cousin, mit dem der 66-Jährige das Geschäft betreibt, in Udine lebt. Vor 23 Jahren starteten unweit dieser italienischen Stadt die Jagdbomber mehrerer Nato-Länder. «Wir können nicht vergessen, was uns der Westen angetan hat», sagt Stojanovic. Er betont mehrmals, dass Serbien doch eine friedliebende Nation sei. In einem fast zwei Stunden langen Gespräch schildert er im Detail den Tag, an dem die Bomben vor seinem Haus einschlugen. Was er mit keinem Wort erwähnt: die von serbischen Sicherheitskräften begangenen Massaker an den Albaner:innen im Kosovo, den Grund für das Eingreifen. Eines weiss Stojanovic mit Sicherheit: «Russland hat uns nie bombardiert. Russland hat im Zweiten Weltkrieg auch keine Faschisten nach Serbien geschickt. Das hat Europa gemacht.» Fragt man den Möbelhändler, was im Vorfeld der Wahlen sein grösstes Anliegen ist, dann antwortet er mit einem Wort: Kosovo. Die Amerikaner, sagt er, hätten diesen Staat künstlich geschaffen. Dabei bilde er das Herz von Serbien. «Wie kann ein Körper ohne Herz leben?», fragt er.

Befreiung oder Trauma?

Fährt man von Nis weiter nach Süden, wird die Landschaft gebirgiger. Bald ragen die weissen Minarette von Moscheen in den Himmel. Hier, im Presevotal, im Dreiländereck zwischen Kosovo, Serbien und Nordmazedonien, lebt die albanische Minderheit des Landes, rund 48 000 Menschen. Die jungen Leute in den Cafés schütteln den Kopf, wenn man sie fragt, ob Vucic ihr Präsident sei. Viele, erzählt eine Studentin, die ihren Master in der Türkei absolviert, würden am liebsten im benachbarten Kosovo leben. An die Nato-Bombardements erinnert man sich in Presevo nicht als Trauma, sondern als Befreiung. Und das, obwohl auch Albaner:innen dabei getötet wurden. Bei einem besonders tragischen Vorfall verwechselten die Bomber einen Flüchtlingstreck mit einer Militärkolonne. Über siebzig Menschen starben. Viele Albaner:innen sind den USA dennoch dankbar. Unlängst verstarb Madeleine Albright, die 1999 US-Aussenministerin war, und Ardita Sinani, die Bürgermeisterin von Presevo, postete ein Foto auf Instagram. Darunter die Zeile: «Ruhe in Frieden.»

In Belgrad marschierten derweil prorussische Nationalisten mit konträren Slogans auf der Strasse. «Schmore in der Hölle, Albright!» stand auf einem Plakat. Darauf angesprochen, kommt Bürgermeisterin Sinani schnell zum Punkt. Die 42-Jährige hat in den letzten Wochen zahlreiche Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine im Internet geteilt. Für Vucics enge und freundschaftliche Beziehung zum russischen Präsidenten zeigt sie kein Verständnis. «Serbien muss sich jetzt ganz klar positionieren», sagt sie, «und zwar, ob es proeuropäisch oder prorussisch sein möchte. Es ist der letzte Moment, um zu entscheiden, auf welcher Seite man stehen will.»

Serbiens Superwahltag

Am Sonntag fanden in Serbien Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen statt. Mit 57 Prozent der Stimmen konnte sich der amtierende Präsident Aleksandar Vucic eine zweite Amtszeit sichern. Seine nationalkonservative Serbische Fortschrittspartei (SNS) verlor zwar im Parlament die absolute Mehrheit, ging aber mit 42 Prozent der Stimmen erneut als stärkste Kraft hervor.

Bei der letzten Wahl, im Jahr 2020, boykottierte ein Grossteil der Oppositionsparteien den Urnengang, weil sie die Voraussetzungen für faire Wahlen nicht gegeben sahen. Vucic dominiert seit zehn Jahren die Politik Serbiens und hat die meisten Medien auf Regierungslinie gebracht. Ebenfalls seit 2012 ist Serbien EU-Beitrittskandidat.

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