Militarisierte Grenzen: Europa als Festung

Nr. 16 –

Ein gigantischer Abwehrkomplex, der sich über Tausende Kilometer erstreckt: Das sind die wichtigsten Schauplätze der europäischen Grenzpolitik im Überblick.

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Räumungen im Wochentakt

Als «Dschungel» wurde das Camp in der Nähe der französischen Stadt Calais bezeichnet: 2015 steckten dort rund 10 000 Personen fest und warteten auf eine Möglichkeit, über den Ärmelkanal nach Grossbritannien zu gelangen. 2016 wurde das Camp geräumt.

Gemäss einem Bericht von Human Rights Watch vom Oktober 2021 leben aber nach wie vor mehr als 2000 Personen in der Region – unter prekärsten Bedingungen. Immer wieder kentern Boote auf dem Ärmelkanal mit tödlichen Folgen. Fast wöchentlich werden laut Medienberichten neu entstandene Zeltlager an der Küste Frankreichs von der Polizei geräumt. Letzte Woche machte die britische Regierung bekannt, künftig Geflüchtete nach Ruanda ausschaffen zu wollen, wo deren Asylgesuch geprüft werden soll.

Die Grenzmauer

Mindestens zwanzig Personen starben seit Juli 2021 beim Versuch, über Belarus nach Polen zu gelangen. Die polnische Regierung spricht von über 30 000 versuchten Grenzübertritten – und reagiert mit Militärgewalt.

Noch immer versuchen täglich Flüchtende, Polen zu erreichen. Amnesty International berichtet von Menschenrechtsverletzungen in gefängnisähnlichen Empfangszentren. Über 300 Millionen Euro investiert Polen derzeit in den Bau einer Grenzmauer.

Die offene Grenze

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat seit dem 24. Februar Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Das Uno-Flüchtlingshilfswerk zählt allein sieben Millionen Binnenvertriebene. Über fünf Millionen Geflüchtete haben das Land schon verlassen.

Polen verzeichnete bisher rund 2,8 Millionen Grenzübertritte aus der Ukraine. Den Ankommenden werden umgerechnet rund siebzig Euro ausbezahlt, für den Unterhalt müssen sie grösstenteils selbst aufkommen. In der Schweiz steht Geflüchteten aus der Ukraine der Schutzstatus S zu: Er ermöglicht ihnen, für mindestens ein Jahr zu bleiben, und wurde gemäss den neusten Zahlen des Staatssekretariats für Migration bislang fast 30 000 Mal gewährt. Demgegenüber werden andere Asylverfahren derzeit verzögert.

Es handelt sich um die grösste Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Solidaritätswelle erinnert an den Sommer 2015, als die Grenzen entlang der Balkanroute geöffnet wurden und rund zwei Millionen Geflüchteten die Einreise in die EU ermöglicht wurde. Europa kann sich auch offen zeigen, wenn es will.

Ketten-Pushbacks

Die Dunkelziffer dürfte gross sein; aber allein die von der Initiative Protecting Rights at Borders dokumentierten Fälle verdeutlichen, dass auf dem Balkan längst eine Normalisierung von Pushbacks stattgefunden hat. 12 406 Personen haben 2021 eine solche illegale Rückschaffung gemeldet. Zehn Prozent von ihnen waren minderjährig.

Besonders viele Pushbacks werden von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina sowie von Ungarn und Rumänien nach Serbien verübt. Auch zwischen den verschiedenen Staaten, die nicht zur EU gehören, werden Flüchtende gewaltsam hin- und hergedrängt. Dabei werden immer wieder sogenannte Ketten-Pushbacks dokumentiert, also Zurückschaffungen über mehrere Grenzen hinweg – etwa von Slowenien über Kroatien bis zurück nach Bosnien-Herzegowina.

Seit 2015 wurden die Grenzen in der Region massiv aufgerüstet, so wird etwa Ungarns Grenze zu Serbien und zu Kroatien von einem vier Meter hohen Stacheldrahtzaun geschützt. Ähnliche Befestigungsanlagen befinden sich zudem an der nordmazedonischen Grenze zu Griechenland und zu Serbien sowie zwischen Slowenien und Kroatien.

Militärisches Sperrgebiet

Niemand soll sehen, was hier vor sich geht: Die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei entlang des Flusses Evros ist militärisches Sperrgebiet. Ein Teil davon ist mit einem massiven, kilometerlangen Grenzzaun befestigt.

Offiziell bestreitet die griechische Regierung, Pushbacks anzuwenden, zuletzt in einem Bericht vom März 2022. Mehr als 4000 Pushbacks allein im letzten Jahr dokumentierte demgegenüber das Border Violence Monitoring Network. Vor wenigen Wochen veröffentliche Human Rights Watch einen Bericht, wonach die Behörden gezielt migrantische Männer anheuerten, um Flüchtende gewaltsam zurückzudrängen. Das UNHCR fordert ein System zur Überwachung der Menschenrechte an den Grenzen. Die griechische Regierung weist die Forderung zurück: Das sei nicht nötig und würde die nationale Souveränität verletzen. Frontex ist in Griechenland mit Hunderten Beamt:innen präsent.

Unvorstellbare Brutalität

Die Ägäis wird von der griechischen und der türkischen Küstenwache, von Frontex und von der Nato überwacht. Pushbacks sind an der Tagesordnung: Boote von Flüchtenden werden zurückgedrängt, ihre Motoren zerstört. Die Beteiligung von Frontex wurde mittlerweile in mehreren unabhängigen Recherchen belegt. Kürzlich machten unter anderem der «Spiegel» und der «Guardian» publik, wie griechische Grenzschützer:innen auf offenem Meer Personen von ihren Booten ins Wasser warfen.

Gemäss der NGO International Rescue Committee leben derzeit mehr als 16 000 Personen in griechischen Lagern, ein Grossteil von ihnen auf dem Festland. Als Reaktion auf den Brand des Lagers bei Moria 2020 unterstützte die EU Griechenland mit 260 Millionen Euro für den Bau fünf neuer Lager auf fünf verschiedenen Inseln. Die ersten von ihnen sind jetzt in Betrieb. Sie sind umgeben von Stacheldraht.

Der EU-Türkei-Deal

2016 einigte sich die EU mit der Türkei darauf, 6 Milliarden Euro in Hilfsprojekte in dem Land zu investieren. Im Gegenzug soll Griechenland «irreguläre Migranten» zurückschaffen dürfen, und die Türkei erhöhte ihren Grenzschutz. Als Machthaber Recep Tayyip Erdogan 2020 diesen als Drohung kurzzeitig lockerte, schossen griechische Beamt:innen teils mit scharfer Munition auf Flüchtende. Im letzten Juni beschloss die EU die Zahlung von weiteren 3 Milliarden Euro «zur Unterstützung von Flüchtlingen in der Türkei».

Neue Überwachungstechnologie

Gemäss dem European Council on Refugees and Exiles (ECRE) haben im letzten Jahr mehr als 12 000 Personen die Republik Zypern erreicht – die meisten von Nordzypern her über die Landgrenze. Frontex betreibt drei Operationen vor Ort, und der Einsatz soll weiter ausgebaut werden, wie der Frontex-Direktor kürzlich bei einem Besuch ankündigte.

Ende 2021 schloss die Regierung ausserdem ein Abkommen mit Israel über den Einsatz von neuer Überwachungstechnologie an der Landgrenze. Auf dem Seeweg wurden im letzten Jahr mindestens acht Pushbacks in die Türkei beobachtet, berichtet das ECRE.

Abgefangen und eingesperrt

Die sogenannte libysche Küstenwache – eine von korrupten Milizen geführte Organisation – kennt keine Skrupel: Wer Libyen in Richtung Europa verlassen möchte und entdeckt wird, wird mit Gewalt zurückgeschafft. 30 990 Personen wurden gemäss Uno-Angaben im letzten Jahr auf dem Meer abgefangen. Recherchen von «Spiegel», «Lighthouse Reports» und ARD-«Tagesschau» belegten im letzten Jahr, wie Frontex dabei hilft: In mehreren Fällen konnte beobachtet werden, wie Frontex-Flugzeuge über Booten kreisten, kurz bevor die libysche Küstenwache diese aufgriff.

Auf dem libyschen Festland verschwinden Geflüchtete in Gefängnissen, wie Ian Urbina in einer umfassenden Recherche beschrieb, die auch in der WOZ erschienen ist (siehe WOZ Nr. 51/21 ). Das Gefängnissystem dient unter anderem der Erpressung von Lösegeld. Die EU unterstützte das Lager- und Grenzregime in den letzten Jahren mit rund 450 Millionen Euro, finanziert aus dem sogenannten Emergency Trust Fund for Africa.

Tausende Tote

Lampedusa stand 2015 im Fokus der Öffentlichkeit. Seither starben Tausende vor der Küste der kleinen italienischen Insel, die näher an Tunesien als an Sizilien liegt. Laut dem Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) erreichen noch immer jeden Monat mehr als tausend Personen Lampedusa. Ausgangsland sei dabei in den meisten Fällen Libyen – trotz der intensiven Zusammenarbeit der EU mit der sogenannten libyschen Küstenwache.

Milliarden gegen Migration

Die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla bilden die einzigen Landgrenzen, die die EU mit dem afrikanischen Kontinent teilt – entsprechend stark sind sie befestigt. In den letzten Jahren hat die Migration von Marokko nach Spanien enorm abgenommen. Frontex ist mit mehr als 180 Beamt:innen vor Ort; und auch Marokko habe seine «Anstrengungen zur Bekämpfung der illegalen Migration verstärkt», schreibt die Agentur. Dafür zahlt die EU über eine Milliarde Euro – rund ein Drittel des Geldes fliesst direkt in Projekte zur Förderung des «Migrationsmanagements» in Marokko.

Dieses sorgte zuletzt 2021 für Schlagzeilen: Weil ein Mitglied der sahrauischen Unabhängigkeitsbewegung in einem spanischen Spital behandelt wurde, lockerte Marokko die Grenzkontrollen bei Ceuta. Rund 8000 Personen gelangten innert kürzester Zeit über die Grenze. Die meisten von ihnen wurden sofort wieder zurückgeschafft. Man lasse sich nicht erpressen, so die spanische Verteidigungsministerin. Kürzlich kündigte die Regierung nun aber an, die Westsaharapläne von Marokko zu unterstützen.

Patrouillen vor Westafrika

Der Seegang ist hier deutlich rauer als im Mittelmeer. Und doch bleibt die Anzahl Personen, die die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln zu erreichen versuchen, seit zwei Jahren auf enorm hohem Niveau.

Deshalb rüstet die EU auf. Geplant ist ein sogenanntes Statusabkommen mit dem Senegal – für die Entsendung von Drohnen, Schiffen und Frontex-Personal. So sollen in Zukunft mehr Flüchtende vor der Küste abgefangen, zurückgedrängt und dem senegalesischen Staat übergeben werden.

Bereits kurz nach der Gründung war Frontex vor den Kanaren aktiv: In ihrem Tätigkeitsbericht von 2006 bilanziert die Agentur, dass bei der «Operation Hera II» 57 Cayucos – kleine Fischerboote – «in der Nähe der afrikanischen Küste abgefangen und umgelenkt wurden». Zwischenzeitlich verloren die Kanaren als Ankunftsort an Bedeutung, bis die Anzahl versuchter Überfahrten 2020 wieder deutlich zugenommen hat.

Westafrikanische Fluchtroute

Die westafrikanische Fluchtroute führt über die Küste des afrikanischen Kontinents zu den Kanarischen Inseln. Diese liegen nur etwas mehr als hundert Kilometer vor der Westsahara. Viele Überfahrten beginnen gemäss der Internationalen Organisation für Migration (IOM) aber schon deutlich weiter südlich, etwa an der Küste des Senegal. Von Saint-Louis, dem nördlichsten Hafen des Senegal, müssen die Boote rund 1500 Kilometer zurücklegen.

Im letzten Jahr erreichten rund 23 000 Personen über die westafrikanische Route europäischen Boden, ähnlich viele wie schon 2020. In den Jahren zuvor wurden noch deutlich weniger Grenzübertritte verzeichnet – 2019 waren es erst rund 2500 gewesen. Gemäss dem spanischen Hilfswerk Caminando Fronteras sind im letzten Jahr mindestens 4400 Personen beim Versuch, die Kanaren zu erreichen, gestorben.

Westliche Mittelmeerroute

Die Bezeichnung bezieht sich gemeinhin auf Einreisen nach Festlandspanien über das Mittelmeer oder auf dem Landweg in die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Der Weg führt in den meisten Fällen über Marokko oder Algerien. Noch 2018 wurden auf diesem Weg die meisten Einreisen nach Europa verzeichnet, danach hat die Anzahl Grenzübertritte stark abgenommen.

Der Rückgang ist hauptsächlich auf den Ausbau der Zusammenarbeit mit Marokko und damit auch von Überwachung und Repression zurückzuführen. Er steht in direktem Zusammenhang mit der starken Zunahme von Überfahrten und Todesfällen auf der westafrikanischen Route. Seit 2014 sind gemäss der IOM schon mindestens 2680 Menschen entlang der westlichen Mittelmeerroute gestorben oder verschwunden, 39 von ihnen allein in diesem Jahr.

Zentrale Mittelmeerroute

Der Weg über das zentrale Mittelmeer nach Italien ist derzeit die wichtigste Fluchtroute. Gemäss Frontex-Zahlen erfolgt hier rund ein Viertel der «illegalen Übertritte» an den europäischen Aussengrenzen. 2021 sind demnach rund 68 000 Personen über das Mittelmeer nach Italien gelangt, was fast einer Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr entspricht.

Wichtigstes Transitland bleibt Libyen – trotz des brutalen Vorgehens der von der EU mitfinanzierten sogenannten libyschen Küstenwache. Die Anzahl Personen, die die Überfahrt von Tunesien oder der Türkei aus angetreten haben, ist laut Frontex 2021 ebenfalls gestiegen. Die IOM zählte letztes Jahr 1500 Tote oder Vermisste auf der zentralen Mittelmeerroute. Das UNHCR spricht von mehr als 21 000 Todesfällen seit 2014.

Östliche Mittelmeer- und Balkanroute

Der Weg nach Zentraleuropa über die Türkei, Griechenland und den Balkan wurde seit 2015 wohl am vehementesten verriegelt. Die Überfahrten von der Türkei nach Griechenland sind seit Abschluss des EU-Türkei-Deals 2016 innert zweier Jahre um rund ein Fünftel zurückgegangen.

Frontex verzeichnete 2021 auf der sogenannten Balkanroute noch rund 60 000 und im östlichen Mittelmeer rund 20 000 Grenzübertritte. Die IOM zählt seit 2014 1700 tote oder vermisste Menschen. 500 von ihnen waren gemäss derselben Quelle Kinder.

Die wichtigsten Landrouten ändern sich laufend, so wie sich auch die Abwehrstrategien der Länder entlang dieser Routen verändern. Gemäss dem Border Violence Monitoring Network führte der Weg nach Zentraleuropa für viele Geflüchtete während der letzten Jahre über Serbien und Kroatien nach Slowenien.

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