Frontex in der Ägäis: Die Pushback-Agentur
Die Grenzschutzagentur Frontex – an der sich auch die Schweiz beteiligt – macht sich an den EU-Aussengrenzen zur Komplizin bei schweren Menschenrechtsverletzungen. Die interne Kontrolle der Organisation greift nicht – und eine externe existiert nicht.
Trotz der schlechten Videoqualität ist die Situation eindeutig: Einem kleinen Gummiboot voll mit Menschen wird von einem grossen Militärschiff im Ägäischen Meer zwischen Griechenland und der Türkei der Weg versperrt. Das Pikante daran: Das Militärschiff trägt den Namen «MAI 1102», gehört zum rumänischen Grenzschutz und ist auf Frontex-Mission. Die türkische Küstenwache filmte an diesem Tag im August einen illegalen Pushback mit Unterstützung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex.
Pushbacks – kollektive Abschiebungen von MigrantInnen zurück über die Grenze, ohne deren Asylantrag zu prüfen – finden in Europa sowohl an Land, etwa auf der Balkanroute, als auch auf dem Mittelmeer statt. Die Praxis verstösst gegen verschiedene internationale Gesetze, unter anderem gegen das in der Genfer Konvention verankerte Non-Refoulement-Prinzip und gegen Artikel 18 und 19 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Mitwissen und Beteiligung von Frontex an Pushbacks im Meer wurde bislang zwar vermutet – nun aber konnte dies eine gemeinsame Recherche des Investigativportals «Bellingcat», des «Spiegels» und weiterer Medien Ende Oktober mithilfe von Videoaufnahmen, Fotos, Schiffsrouten, Gesprächen mit Betroffenen und Frontex-MitarbeiterInnen so detailliert nachweisen wie noch nie.
Gemäss NGOs und Geflüchteten sind Pushbacks in der Ägäis seit Jahren an der Tagesordnung. Im Juli dieses Jahres berichtete bereits das Border Violence Monitoring Network, ein Zusammenschluss von NGOs, über Pushbacks unter Mitwirkung von Frontex-Angehörigen an verschiedenen Landgrenzen der EU. So identifizierte etwa eine afghanische Familie, die am 25. Juli von Mazedonien zurück nach Griechenland gebracht wurde, an der Aktion beteiligte Frontex-GrenzschützerInnen anhand von deren Uniformen. Sie gaben zu Protokoll, von diesen geschlagen, getreten und erniedrigt worden zu sein – vor den Augen ihrer zwei Kinder.
Nur 48 Stunden Untersuchung
Während Frontex und allen voran ihr Direktor Fabrice Leggeri ähnliche Vorwürfe in den vergangenen Jahren stets kategorisch zurückgewiesen hatten, kündigte die Grenzschutzagentur nun kurz nach dem Publikwerden der Vorfälle Ende Oktober eine interne Untersuchung an. Doch nur 48 Stunden später liess sie bereits verlauten, dass keine Dokumente vorlägen, die auf Fehlverhalten hindeuten würden.
«Ich glaube Frontex sogar, dass sie keine entsprechenden Dokumente gefunden haben», sagt die griechische Migrationsforscherin Lena Karamanidou. «Denn interne Berichte, die entsprechende Menschenrechtsverletzungen festhalten würden, wurden wohl gar nicht erst produziert.» Karamanidou untersucht die Machenschaften der europäischen Grenzschutzagentur seit drei Jahren im Rahmen des Forschungsprojekts «Respond» und ist Koautorin einer Studie über die Kontrollmechanismen zur Einhaltung der Menschenrechte bei Frontex. «In ihren Enthüllungen berichten ‹Bellingcat› und weitere Medien, dass Passagen über Pushbacks oder Menschenrechtsverletzungen höchstwahrscheinlich aus den Berichten entfernt wurden, bevor diese ins Hauptquartier nach Warschau gelangten.» Frontex wies diese Vorwürfe von sich, will sie aber trotzdem untersuchen.
Mit Blick auf die angekündigte Untersuchung hegt Karamanidou wenig Hoffnung – das Problem liege tiefer, es sei in der Struktur der Grenzschutzagentur verankert. Das zeige sich gut am Beispiel des Fundamental Rights Officer, der die Einhaltung der Menschenrechte bei Frontex garantieren soll. «Der Fundamental Rights Officer macht Vorschläge, die aber rechtlich nicht bindend sind und vom Direktor zurückgewiesen werden können», sagt Lena Karamanidou. «Dieses Organ ist, wie andere Kontrollmechanismen innerhalb von Frontex, weitgehend wirkungslos und somit das reinste Feigenblatt.» Dass interne Kontrollmechanismen nicht greifen und externe komplett fehlen, sei fatal. Frontex habe mit ihren weitreichenden operativen Kompetenzen direkten Einfluss auf Menschen und ihre Leben. «Diese Macht erfordert eine viel stärkere Kontrolle, als sie bislang vorhanden ist», so Karamanidou.
Die EU-Innenministerin Ylva Johansson macht derweil Frontex-Direktor Leggeri für den Ausgang der weiteren Untersuchung verantwortlich. Sie forderte öffentlich Antworten von Leggeri und stellte klar, dass eine Beteiligung von Frontex an Pushbacks – sollte sich dies bewahrheiten – inakzeptabel wäre. Ein erstes Treffen des Verwaltungsrats der Grenzschutzagentur mit der Kommission rund um Johansson vor einer Woche brachte ausser Ankündigungen indes keine Neuigkeiten. Während in Brüssel hinter verschlossenen Türen diskutiert wurde, riefen siebzig Menschen an der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei verzweifelt um Hilfe: Sie wurden von griechischen GrenzbeamtInnen auf einer Insel ausgesetzt – mitten im Einsatzgebiet von Frontex.
Das Budget explodierte
Unter der Führung von Fabrice Leggeri, der seit Anfang 2015 oberster europäischer Grenzschützer ist, wurden die Kompetenzen der Organisation laufend ausgeweitet. So erhielt Frontex Ende 2019 die Aussicht auf eine eigene Armee bis 2027, bestehend aus 10 000 GrenzschützerInnen, die künftig auch Waffen tragen dürfen. Frontex wurde über die Jahre zum zentralen Akteur in Sachen Militarisierung der europäischen Aussengrenzen – ausgestattet mit einem riesigen Arsenal modernster Überwachungstechnik und Einsatzfahrzeugen. Dies zeigt sich nicht zuletzt am Budget, das seit der Gründung regelrecht explodierte: Kam die Grenzschutzagentur 2005 noch mit 6 Millionen Euro aus, sind für das Jahr 2022 1,1 Milliarden veranschlagt. Der Fokus liegt dabei deutlich auf der Grenzsicherung und der Migrationsabwehr. Menschenrechte spielen, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle – im laufenden Jahr sind für das Fundamental Rights Office lediglich circa 0,2 Prozent des Budgets vorgesehen.
Auch die Schweiz ist finanziell wie personell an Frontex beteiligt – unter anderem an der Mission «RBI Evros 2020», die für den Grenzschutz an der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei zuständig ist. Eigentlich hat der Fundamental Rights Officer 2019 empfohlen, die Evros-Mission abzubrechen, falls weiterhin schwere Menschenrechtsverstösse auftauchten. Trotzdem waren die zahlreichen Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen – darunter Pushbacks, Gewalt und mehrere Todesfälle – bislang weder Grund genug für Frontex, den Einsatz zu stoppen, noch für die Schweiz, sich davon zu distanzieren.
Auf Nachfrage gibt die Eidgenössische Zollverwaltung bekannt, dass zwischen März und September vier Schweizer GrenzschützerInnen im Bereich Grenzüberwachung an der Evros-Mission teilnahmen – also an just jener Grenze entlang des Flusses Evros zwischen Griechenland und der Türkei, an der die vermutlich grösste Anzahl Pushbacks stattfindet – meistens für die Öffentlichkeit unsichtbar, gedeckt durch die schweigsame europäische Grenzschutzagentur. Die Schweizer BeamtInnen seien angewiesen, Menschenrechtsverletzungen umgehend zu melden. Bisher seien aber keine entsprechenden Meldungen eingegangen, so der Mediensprecher der Zollverwaltung.
Die Migrationsforscherin Lena Karamanidou spricht bei Frontex von einer «strukturellen Dimension des Problems». Die Schuld nur beim Direktor zu suchen, sei zu einfach. «Wenn Leggeri geht, übernimmt einfach ein anderer seinen Platz. Wenn die grundsätzliche Ausrichtung der Grenzschutzagentur verändert werden soll, dann geht das nur über die Kommission, das Parlament und den Europäischen Rat.» Karamanidou schlägt eine umfangreiche Budgetreduktion vor oder weniger und andere Verantwortungsbereiche für die Grenzschutzorganisation. In jedem Fall aber brauche es bindende Regeln und strengere Kontrolle für menschenrechtliche Belange – kontrolliert durch eine unabhängige und externe Instanz. Gerade weil dafür offenbar der politische Wille fehle, sei der Druck der Zivilgesellschaft umso wichtiger: «Es braucht unbedingt Forderungen für einen Rückbau oder eine Abschaffung von Frontex», so Karamanidou, in den Medien, durch AkademikerInnen und AktivistInnen. «Die Agentur hat riesigen menschlichen Schaden angerichtet und übernimmt dafür bis heute keine Verantwortung.»
Massengrab Mittelmeer
850 Menschen seien im Jahr 2020 beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, gestorben oder werden seither vermisst, gibt das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR an. Verschiedene Nichtregierungsorganisationen gehen von deutlich mehr Todesfällen aus.
Alleine in den letzten Wochen forderte das europäische Grenzregime Hunderte Tote entlang der unterschiedlichen Migrationsrouten: Innert weniger Tage ertranken über 100 Menschen auf dem Weg von Libyen nach Italien. Und zwischen der westafrikanischen Küste und den Kanaren verloren Ende Oktober mindestens 140 Menschen ihr Leben.
Anstatt für sichere Fluchtrouten zu sorgen, wirbt Frontex weiterhin für mehr Grenzsicherung und Abschottung und ist als einer der Hauptakteure der Region mitverantwortlich dafür, dass das Mittelmeer noch immer als eine der tödlichsten Migrationsrouten der Welt gilt.