Julia Steinberger: «Die Lebensqualität wird oft besser, wenn der Ressourcenverbrauch sinkt»
Ohne Systemtransformationen keine wirksame Klimapolitik, sagt Julia Steinberger, Professorin für Ökologische Ökonomik in Lausanne.
WOZ: Julia Steinberger, wieso braucht es Systemtransformationen?
Julia Steinberger: Weil es jetzt sehr schnell gehen muss, damit wir die Erwärmung auf deutlich unter 2 Grad begrenzen können. Wir müssen grundlegend anders produzieren und konsumieren. Dabei müssen sich sowohl technische wie institutionelle und kulturelle Aspekte der Wohn-, Transport- oder Ernährungssysteme verändern.
Der neue IPCC-Bericht spricht von Möglichkeiten, Energie zu sparen; von Suffizienz – also davon, Bedürfnisse zu begrenzen, statt sie immer grösser werden zu lassen – und von Verhaltensänderungen wie beispielsweise weniger Fleischkonsum. Sind das Beispiele für systemische Veränderungen?
Ja, die Nachfrage verändern ist immer ein Element struktureller Transformation. Und das Gute dabei ist: Die Lebensqualität wird in vielen Fällen besser, wenn der Ressourcenverbrauch sinkt – beispielsweise weil Menschen, die zu Fuss gehen oder Velo fahren oder weniger Fleisch essen, gesünder sind.
Ich habe den Eindruck, dass die Klimapolitik bisher eher versucht, systemische Veränderungen zu vermeiden.
Es gibt sehr verschiedene Politiken. Aber mehrheitlich stimmt schon, was Sie sagen. Gerade für die Schweiz: Auch das im letzten Juni abgelehnte CO₂-Gesetz hätte nur schrittweise und ungenügende Veränderungen gebracht. Und indem die Schweiz Emissionen im Ausland «kompensiert», vermeidet sie die nötigen Strukturanpassungen. In der Schweiz wird Klimapolitik als etwas wahrgenommen, was teuer ist und wehtut. Dabei wäre die Veränderung der Struktur von Systemen ein sehr mächtiger Hebel, und eine systemische Klimapolitik hätte viele positive Nebeneffekte. Das zeigt der aktuelle IPCC-Bericht deutlich, und ich hoffe, dass er dazu beiträgt, die Wahrnehmung zu korrigieren.
Der Bundesrat baut seine Klimapolitik auf den Energieperspektiven 2050+. Bei deren Erstellung wurde bewusst entschieden, Suffizienz nicht zu berücksichtigen. Das war also ein Fehlentscheid?
Als IPCC-Autorin sage ich den Staaten nicht, was sie tun müssen. Aber der Bericht zeigt das grosse Potenzial von Suffizienz. Weltweit liessen sich bis 2050 vierzig bis siebzig Prozent der Emissionen allein dadurch einsparen, dass man die Energienachfrage senkt.
Im Entwurf der Zusammenfassung des Berichts stand ein interessanter Satz, der in der Schlussberatung von den Mitgliedstaaten des IPCC offenbar gestrichen wurde: «Zu den Faktoren, die einen ambitionierten Wandel behindern, gehören […] ein schrittweiser statt systemischer Ansatz […] sowie Eigeninteressen.»
Die Schlussverhandlungen finden hinter verschlossener Tür statt, und ich darf sie nicht kommentieren. Doch im 3000-seitigen Gesamtbericht, der nicht von den Regierungen abgesegnet werden muss, ist diese Aussage gut begründet.
Gibt es Länder, die anders vorgehen?
Ja, etwa Norwegen: Das Land hat früh begonnen, E-Autos zu fördern, da konnten auch schrittweise Änderungen einen systemischen Effekt bewirken. Wenn ein Land erst jetzt damit beginnt, ist es umso wichtiger, die Mobilität umfassend zu denken: Da geht es um Raumplanung und Städtebau, um Fuss- und Veloverkehr und um institutionelle, infrastrukturelle und kulturelle Veränderungen. Der IPCC-Bericht kann dafür erfolgreiche Beispiele nennen – niederländische Städte, Kopenhagen, aber auch Barcelona oder Paris haben es geschafft, einen CO₂-armen städtischen Lebensstil zu etablieren, der stark auf das Velo setzt.
Sie sind Ko-Autorin der Studie «Mit minimalem Energieverbrauch ein würdevolles Leben ermöglichen». Der IPCC hat den Begriff des würdevollen Lebens aufgenommen. Das scheint mir ein echter Paradigmenwechsel gegenüber ökonomischen Kosten-Nutzen-Betrachtungen …
Ja, das ist ein grosser Kontrast auch zum IPCC-Bericht von 2014! Die Forschung hat sich in diese Richtung geöffnet. Das Konzept des würdevollen Lebens hat vor allem Professor Narasimha Rao der Universität Yale entwickelt und in Indien, Südafrika und Brasilien angewandt. Die Reduktion der materiellen Armut und Umweltschutz wurden lange als Gegensätze betrachtet. Heute sehen wir, dass sie zusammengehören.
Und doch wollen alle das Bruttoinlandsprodukt, kurz: BIP, steigern.
Als der Ökonom Simon Kuznets den Begriff vor neunzig Jahren einführte, sagte er bereits, dass das keine Grösse sei, um das Wohlergehen der Menschen zu messen: Es misst lediglich wirtschaftliche Aktivität. Die Ökonom:innen wissen das natürlich – theoretisch. Viele Kolleg:innen, die mit dem BIP rechnen, tun das nicht, weil sie es für eine gute Grösse halten, sondern weil es die Grösse ist, die in den Modellen eingebaut ist.
Aber in der Wirtschaftspolitik bleibt das BIP-Wachstum das Mass aller Dinge.
Ja, viele Politiker:innen haben das nicht verstanden. Und man kann halt wunderbar vergleichen, wer das höhere BIP hat.
Sie definieren «System» als etwas, das aus Komponenten besteht, die miteinander wechselwirken. Das ist ja eigentlich recht banal … Warum fällt es offenbar so schwer, die globale Erwärmung systemisch wahrzunehmen und anzugehen?
In den Wissenschaften ist der Systembegriff heute gut eingeführt, aber wenn ich beim Schweizerischen Nationalfonds ein Projekt eingebe, muss ich das einer bestimmten Disziplin zuordnen. Ein systemischer Ansatz hält sich aber nicht an Disziplinengrenzen. Da täte ein Systemumbau auch not! Und in der Politik ist das Systemdenken noch kaum verstanden.
Julia Steinberger ist Professorin für Ökologische Ökonomik an der Universität Lausanne und Kodirektorin des Center for Climate Impact and Action (Climact) von Universität und EPF Lausanne. Sie ist eine von 278 Autor:innen des jüngsten IPCC-Berichts, der am 4. April veröffentlicht wurde.