Neue Klimaproteste: Gestörte Normalität
Sie blockieren Autobahnen und Raffinerien, unterbrechen Fussballspiele oder ketten sich an die Eingangstüren von Banken: Die Aktionsformen der Klimabewegung werden direkter, die Forderungen klarer. Damit demaskieren sie eine Politik der grossen Worte und fehlenden Taten.
Wie so oft während des Berufsverkehrs kommen die Autos diesen Montagmorgen auf dem Nationalstrassenabschnitt von Ecublens ins Stadtzentrum von Lausanne nur langsam vorwärts. Etwa um Viertel vor acht Uhr wird die Kolonne bei der Abzweigung Lausanne-Malley vollends abgebremst. Eine Gruppe von Klimaaktivist:innen läuft auf die Fahrbahn, stoppt die Wagen und rollt ein Transparent mit der Aufschrift «Renovate Switzerland» aus. Dann setzen sich vier Aktivist:innen auf die Fahrbahn.
Renovate Switzerland ist eine neue Klimakampagne. Sie fordert vom Bundesrat, die energetische Sanierung der Gebäude in der Schweiz mit fünfmal so viel Mitteln wie bisher zu fördern: statt mit 200 Millionen neu mit einer Milliarde Franken pro Jahr. «Gebäude sind wahre Energiefresser», schreibt Renovate Switzerland. Sie machen 45 Prozent des gesamten Energieverbrauchs in der Schweiz aus und sind die zweitgrösste Quelle von CO₂-Emissionen des Landes. Mit Wärmedämmungen könnte nicht nur der Treibhausgasausstoss stark reduziert werden, es liessen sich auch sechzig Prozent der Heizkosten einsparen. Renovate Switzerland hat am 19. März einen Brief mit dieser Forderung an Bundesrätin Simonetta Sommaruga geschickt, aber bislang keine Antwort bekommen.
Einer der Blockierer ist Gilbert Rossier, ein 49-jähriger Vater von vier Töchtern. «Wir haben nur noch drei bis vier Jahre», sagt er. «Wir müssen in dieser Zeit alles daran setzen, dass sich was ändert. Wirklich alles.» Rossier bezieht sich auf den neusten Bericht des Uno-Weltklimarats IPCC. Dieser hält fest, dass ein weiterer Anstieg des CO₂-Ausstosses innert weniger Jahre gestoppt werden müsse, ansonsten sei nicht nur das 1,5-Grad-Ziel, sondern auch die 2-Grad-Grenze maximaler Erderwärmung nicht mehr zu erreichen. «Es braucht Pioniere, die jetzt aktiv werden. Verwandte von mir leben auf den Fidschiinseln und kämpfen schon jeden Tag mit den Folgen der Klimakrise», sagt Rossier. «Hier interessiert das kein Schwein.» Nach etwa fünfzehn Minuten ist genügend Polizei vor Ort, die Aktivist:innen werden von den Beamt:innen weggetragen und verhaftet.
Renovate Switzerland hat weitere Autobahnblockaden angekündigt. Ähnliche Aktionen finden zeitgleich auch in anderen Ländern statt, in Grossbritannien etwa die Kampagne «Just Stop Oil» (vgl. «Jeden zweiten Tag eine Blockade») und in Deutschland eine unter dem Namen «Letzte Generation». Diese hatte bereits Anfang des Jahres mit Autobahnblockaden für Aufsehen gesorgt. Letzte Generation forderte damals von der Bundesregierung ein Gesetz, das Supermärkte dazu verpflichten würde, noch geniessbares Essen zu spenden, anstatt es wegzuwerfen. Die Aktivist:innen blockierten im Verlauf von sechs Wochen Dutzende Autobahnabschnitte in verschiedenen Bundesländern. Das führte nicht nur zu grosser medialer Aufmerksamkeit, sondern auch zu einer breiten Diskussion um Foodwaste.
Wer ist hier gefährlich?
Angesichts des Krieges gegen die Ukraine hat Letzte Generation ihre Kampagne inzwischen verändert. Sie fordert jetzt von der Bundesregierung einen Stopp der Finanzierung und des Ausbaus von Kohle-, Öl- und Gasinfrastrukturen. Dabei zitieren sie den Uno-Generalsekretär Antonio Guterres: «Klimaaktivisten werden manchmal als ‹gefährliche Radikale› dargestellt. Aber die wirklich gefährlichen Radikalen sind die Länder, die die Produktion von fossilen Brennstoffen erhöhen.» Auch diese Woche werden Autobahnabschnitte und verschiedene Strassen der Bankenstadt Frankfurt blockiert. Am vergangenen Sonntag wurde zudem das Bundesligaspiel Eintracht Frankfurt gegen den SC Freiburg unterbrochen, indem sich zwei Aktivisten mit Kabelbindern an einem Tor festzurrten. «Wir wollen grösstmögliche Störungen veranstalten, die nicht mehr ignoriert werden können», sagt Kampagnensprecherin Carla Hinrichs.
Ob Just Stop Oil, Letzte Generation oder Renovate Switzerland – die Kampagnen haben eines gemeinsam: Sie werden mehrheitlich von Leuten getragen, die zum Umfeld von Extinction Rebellion (XR) gehören, einer globalen Bewegung, die in den letzten Jahren mit der Besetzung von Brücken und Strassen in den Städten, aber auch durch apokalyptische Inszenierungen aufgefallen ist. Merkmal von XR sind drei Forderungen: dass die Regierungen die Wahrheit über die Klimakrise sagen sollen, dass sie handeln, um die Erderwärmung zu stoppen, und dass sie Bürger:innenversammlungen einberufen sollen, die über Massnahmen gegen die Krise befinden.
Mit den neuen Kampagnen sind jetzt nicht nur neue Namen dazugekommen, sondern auch konkretere Forderungen. «Wir fordern jetzt Dinge, die Lösungen aufzeigen», sagt Hinrichs. Die von links vorgebrachte und ziemlich überzogene Kritik am «sektenhaften» Auftreten von XR ist inzwischen weitgehend verstummt. Und den Vorwurf, Endzeitstimmung zu verbreiten, könnte man auch Guterres machen, der inzwischen immer eindringlicher vor der «Zerstörung der Welt» warnt. Auf viel Ablehnung in der Öffentlichkeit stösst allerdings auch der Umstand, dass unbeteiligte Autofahrer:innen zu langen Wartezeiten gezwungen werden. Hinrichs antwortet darauf: «Das ist zwar unangenehm, aber im Vergleich zur Klimakatastrophe auch wieder nicht so sehr.»
Aufstand der Wissenschaft
Auch viele Wissenschaftler:innen beharren immer resoluter auf der Dringlichkeit von Klimamassnahmen und sind bereit, sich dafür mit direkten Aktionen zu exponieren. Eine dieser Exponentinnen ist Julia Steinberger. Die Professorin für Ökologische Wirtschaft an der Universität Lausanne hat als Autorin in leitender Funktion am neusten IPCC-Bericht mitgearbeitet. Sie sagt, der Bericht zeige neu nicht nur auf, dass «sofortige und radikale Handlungen» erforderlich seien, sondern präsentiere auch «in jedem Bereich kosteneffektive Lösungen». Nötig sei allerdings «massives Handeln, das die ganze Gesellschaft verändert».
Zusammen mit anderen Wissenschaftler:innen versuchte Steinberger vergangenen Mittwoch in Bern, Kernbotschaften des IPCC-Berichts an die Fassade des Bundeshauses zu kleben. Polizist:innen hinderten sie daran. Die Aktion war koordiniert mit weltweiten Protesten von Wissenschaftler:innen und lief unter dem Namen «Scientist Rebellion». Auch hier stehen viele der Beteiligten XR nahe. «Ich bin überzeugt, dass die traditionelle Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik versagt hat und es unsere Pflicht als Wissenschaftler:innen ist, alles zu versuchen, unsere Botschaft in die Öffentlichkeit zu tragen», sagt Steinberger. «Das beinhaltet auch gewaltfreien zivilen Widerstand.» Es brauche eine breite Debatte über die Dringlichkeit der Klima- und der Ökologiekrise und darüber, wie die zentrale Herausforderung der Menschheit bewältigt werden könne. Die fossile Industrie und die mit ihr verbandelten Politiker:innen würden diese verhindern. «Deshalb ist ziviler Widerstand so wichtig.»
Vergangene Woche haben in rund 25 Ländern Aktionen von Scientist Rebellion stattgefunden. In Italien etwa wurden Einrichtungen des Energieunternehmens ENI und in den Niederlanden Ministerien blockiert. In Los Angeles ketteten sich vier Wissenschaftler an das Eingangstor der Grossbank Chase. Der Nasa-Forscher Peter Kalmus sagte dabei unter Tränen: «Wir haben jahrzehntelang versucht, euch zu warnen. Jetzt steuern wir auf eine verdammte Katastrophe zu.»
Tadzio Müller ist Mediensprecher von Scientist Rebellion. Der deutsche Politologe und Klimaaktivist nimmt einen «Bruch» wahr, der durch die Wissenschaft gehe. Traditionelle Wissenschaft wolle den Bereich des Wissens vergrössern. «Aber viele Wissenschaftler erkennen nun, dass sie ein Papier nach dem anderen schreiben und es doch nichts ändert.» Viele Entscheidungsträger:innen wollten es gar nicht wissen. «In dieser Situation des Nichtwissenwollens ist die traditionelle Rolle des Wissenschaftlers nicht mehr angemessen.»
Müller sieht die Aktionen von Gruppen wie Letzte Generation oder Scientist Rebellion als Versuch, die Normalität zu stören. Es sei ihnen wichtig, über das traditionelle Protestspektrum hinauszukommen: Anders als etwa Fridays for Future würden diese Gruppen zudem nicht darauf fokussieren, von der Allgemeinheit «gemocht zu werden». Sie müssten allerdings aufpassen, nicht «von der Normalisierungsmaschine» vereinnahmt zu werden und so letztlich «Protestfolklore» zu betreiben. Die Perspektive, so Müller: «Es müssen immer mehr Leute immer störendere Aktionen machen.»
Waldbesetzung im Aargau
Es hätte ein Kristallisationspunkt der Klimabewegung werden können: Am 3. April besetzten Aktivist:innen ein Waldstück in Villigen. Dieses will der Zementkonzern Holcim, der grösste Treibhausgasproduzent der Schweiz, roden lassen, um seinen Steinbruch zu erweitern. Doch die Besetzung dauerte nur 36 Stunden. Den vier Aktivist:innen, die sich auf einer Plattform in den Bäumen eingerichtet hatten, fehlte es an warmer Kleidung. Weil die Polizei die Versorgung mit entsprechender Ausrüstung verhinderte, mussten sie unterkühlt ins Spital gebracht werden.
Für Emma Keller und Kevin Meier (Namen geändert), die beide aus der Klimastreikbewegung kommen, war es dennoch ein Erfolg: «Wir haben sehr viel Solidarität bekommen. Das Konzept der direkten Aktion hat Zukunft.» Meier sagt, es brauche mehr solche Aktionen, «um die Klimakiller an der weiteren Zerstörung unserer Zukunft zu hindern». Auch das Blockieren von Strassen hält er inzwischen für gerechtfertigt. «Um den nötigen Systemwandel herbeizuführen, sind disruptive Aktionen absolut notwendig.»