Theater: Was kann die Kunst?

Nr. 17 –

Welche ist deine Lieblingsszene aus dem «Tell»? Deine Lieblingsfigur? Was bedeutet dir Freiheit? Das sind Fragen, die Milo Rau seine handverlesenen Laiendarsteller:innen auf der Bühne des Zürcher Schauspielhauses beantworten lässt: den Urner Jägersmann, die Offizierin der Schweizer Armee, die junge Krankenpflegerin, den Sans-Papiers aus Eritrea, den Rollstuhlfahrer im Kampf gegen Treppen.

Sie mischen sich locker unter die Profis. Auch diese gehen von Persönlichem aus: Michael Neuenschwander hat hier vor zehn Jahren schon mal den Tell gegeben. Die Visperin Karin Pfammatter, aufgewachsen im Schatten der Berge, wollte immer schon Volksschauspielerin sein. Sebastian Rudolph war einst Christoph Schlingensiefs Zürcher Hamlet. Er gibt den Gessler im Tarantino-Stil und in Nazitracht: eine Referenz an Schlingensiefs Kostüm von damals und an die «Tell»-Inszenierung von 1939 auf der Pfauenbühne. Von Nazideutschland Verfolgte spielten damals im Klima der Geistigen Landesverteidigung. Tonaufnahmen mit Sätzen aus dem alten Programmheft legen die Spur in die Gegenwart: die «Welt am Rand des Abgrunds», Neutralität als «Überparteilichkeit», die Rolle der Kunst.

Viel Bewusstsein für alte Schattenlinien und Gespenster also – der Abend verspricht dicht zu werden. Wichtiger Theatermacher trifft auf wichtigen Schweizer Mythos und auf die Hoffnung, dieser «Tell» werde auch in die Gegenwart hineinzünden. Früh fällt der Satz, die Schweizer hätten bei den Nazis offen mitgemacht, wenn diese nur keine Deutschen gewesen wären. «Hängt den Bührle an ein Schnürle», steht über dem Eingang in den Theatersaal. Doch kommen diese wuchtigen Verweise kaum übers Angedachte hinaus. Milo Raus Volkstheater hat grosse, berührende Momente, etwa wenn die einstige Bührle-Zwangsarbeiterin Irma Frei aus ihrem Leben erzählt. Doch die Reflexion zu Schillers «Tell» als imaginäre Matrix für die Schweiz bleibt blass, der Zusammenhang mit den Geschichten der Lai:innen oft unklar. Und was hat nun Bührle genau mit «Tell» zu tun?

Am Ende ist die Stimmung im Saal aufgeräumt. Politische Forderungen werden laut, doch insgesamt regiert eidgenössische Versöhnlichkeit. Die Finger recken sich zum bunt-ekstatischen neuen Rütlischwur. Alle können ein paar Minuten lang Tell sein, nur Gessler bleibt den ganzen Abend derselbe. Jede Geschichte sei so gut wie die andere, heisst es einmal. Das ist leider etwas flach.

«Wilhelm Tell» ist im Schauspielhaus Zürich zu sehen: www.schauspielhaus.ch.