Corinne Schelbert (1945–2022): Sie hatte eine Spürnase für politisch falsche Töne
Eine der wichtigsten Filmkritiker:innen der Schweiz und viele Jahre WOZ-Redaktorin: Kürzlich ist Corinne Schelbert mit knapp 77 Jahren verstorben. Der Psychoanalytiker und langjährige Freund Berthold Rothschild erinnert sich.
Manchmal zeigt sich bei besonders sensiblen Menschen, dass Begabungen ihren ungeahnt hohen Preis haben, wenn fortgeschrittenes Alter alles zu verlangsamen und auszubremsen droht; wenn die Glieder schmerzen und man sich nicht mehr erinnern kann, wo die letzten Entwürfe und Manuskripte sich gerade befinden. So war es bei der kürzlich verstorbenen Journalistin und Filmkritikerin Corinne Schelbert – weitherum gefürchtet und bewundert für ihr scharfes Urteil und ihre manchmal bissigen Kommentare.
Gezielter Humor
In jungen Jahren besuchte Corinne Schelbert, wie dies in gutbürgerlichen Kreisen damals nicht unüblich war, die Zürcher Schauspielschule, ohne aber je im Schauspielberuf aktiv zu werden. Wohl aber hat sie sich damit einen Fundus an weitem Wissen und keckem Können angeeignet. Ähnlich erging es ihr mit dem nächsten Engagement als Sekretärin und Mädchen für alles in einer grossen Galerie für moderne Kunst, damals war das Pop-Art in allen Ausformungen und Facetten. Durch ihren familiären Hintergrund, insbesondere ihre in Germanistik promovierte Mutter, war sie bereits zuvor vielschichtig an Kunstgeschichte interessiert und hatte sich einen kollegialen Ton im Umgang mit den oft überaus eitlen Künstlern angeeignet; bald wusste sie, wie sie fair und kritisch mit diesen umzugehen hatte. Dabei halfen ihre grazile und etwas verklärte Statur und ihr gezielter, meist liebenswerter Humor. Auch führte sie die Tätigkeit in der Kunstwelt wiederholt in die USA, was zu jener Zeit – Vietnamkrieg, Beatkultur – ohne kritische Distanz kaum möglich gewesen wäre.
Streitfreude und Fairness
Ihre ältere Schwester Claudia hatte in den USA geheiratet und lebte in Denver, Colorado, wo wir sie gemeinsam des Öfteren besuchten und dies mit ausgedehnten Reisen über das ganze Land kombinierten. Corinnes Epizentrum aber wurde New York. Dort entwickelte sie auch ihre Expertise für amerikanische Literatur und Politik, amerikanischen Film und das sie auszeichnende Sensorium für Verlogenheiten aller Art, die in den vergangenen Jahren unter Donald Trump einen schändlichen Höhepunkt erreichten. Sie machte es sich zur Gewohnheit, fast täglich die «International Herald Tribune» zu lesen und CNN zu schauen – manchmal bis zum Kotzen, wie sie anzufügen pflegte.
All diese Erfahrungen und das damit verbundene Wissen prädestinierten Corinne dazu, 1984 eine Stelle als Kulturredaktorin bei der drei Jahre zuvor gegründeten WOZ anzunehmen, bei äusserst bescheidenem Solidarlohn. Dort erlebte sie eine vielseitige politische Kollegialität und Streitfreude, und sie wurde für ihre Fairness, ihr Wissen und ihre klugen, streitbaren Kommentare in der Redaktion und von den Leser:innen sehr geschätzt.
Durch ihre unermüdliche Neugier und ihre bemerkenswerte kulturelle Vielfalt kam sie während ihres Aufenthalts in den USA in Kontakt mit dem dort verfolgten und später in die Schweiz geflüchteten Psychedelikpropheten Timothy Leary. Dieser ermutigte auch seine Gefolgschaft in der Schweiz zu psychedelischen Experimenten aller Art. Bei Corinne führten diese später zu einem Abdriften in den Drogenkonsum, mit verhängnisvollen körperlichen und psychischen Spätfolgen für ihre Gesundheit und Arbeitsfähigkeit.
Sozialer Rückzug
Ausser für die WOZ schrieb Corinne in den achtziger Jahren auch Film- und Literaturkritiken für den «Tages-Anzeiger», und sie übernahm verschiedene Übersetzungsaufträge für amerikanische Literatur, für die sie, ebenso wie für den Film, zur eigentlichen lokalen Autorität wurde. Sie liess sich von der journalistischen Chuzpe ihres WOZ-Kollegen Niklaus Meienberg inspirieren und entfachte im Herbst 1983 mit einer Filmkritik zu Thomas Koerfers «Glut» («‹Glut› ist ein kalter, arg konstruierter, neutraler, ängstlicher Film») eine heftige Debatte. Auch wurde sie als unerschrockene und unbestechliche Spürnase für politisch falsche Töne bei Freund:innen und Fachleuten bekannt und gerne gelesen.
Nach dem Tod ihrer Mutter und dem damit verbundenen Verlust ihrer Heimat auf der Forch begann Corinne allerdings schon bald, sich beruflich und sozial zurückzuziehen. Sie hatte zunehmend Mühe, ihre Termine einzuhalten und ihre Kreativität weiter auf dem gewohnt hohen Niveau zu entfalten. Sie lebte nun vermehrt unzufrieden und ängstlich in selbstgewählter Einsamkeit und mit spärlichem Kontakt zu ihren wenigen bewährten Freund:innen.
So ängstlich war Corinne geworden, dass sie es in den letzten paar Monaten sogar versäumte, sich wegen eines banalen Infekts medizinisch behandeln zu lassen. Dieser führte schliesslich zu einer Sepsis und zu einem mehrwöchigem Koma. Unausweichlich starb Corinne Schelbert am 20. Mai. Ihr Tod war ein Schock für viele ehemalige Kolleg:innen und einstige und verbliebene Freund:innen. Darunter auch für mich, ihren früheren langjährigen, jetzt tieftraurigen Soulmate.