Charlie Kaufman: Kopfvoran in den Fiebertraum
Ein Filmkritiker versucht grösstenteils vergeblich, sich an den längsten Film der Welt zu erinnern. Der erste Roman von Charlie Kaufman («Being John Malkovich») ist mindestens so genial wie seine Filme – aber auch anstrengender.
Vorsicht vor offenen Kanalschächten! Mit einer Frequenz wie in einem Slapstickfilm fällt Filmkritiker B. Rosenberger Rosenberg in solche hinein. Bis auf ein paar Rattenbisse unversehrt, klettert er jeweils wieder heraus, um mit einer seiner Schimpftiraden gegen sein liebstes Hassobjekt fortzufahren: «Charlie Kaufman ist ein Elitärer im verachtenswertesten Sinne des Wortes. Er ist ein Poseur der widerwärtigsten Art, geliebt von Baskenmütze tragenden Studienanfängern, die sich in ihrem Banausentum für Verfechter von etwas Scharfsinnigem, etwas Originellem, etwas nicht Kategorisierbarem halten.» Zur Strafe fällt er in einen weiteren Kanalschacht.
Da ja immer ein Restrisiko besteht, dass wir in Wahrheit alle Figuren in einem von Charlie Kaufman gestalteten Kosmos sind, sollte, wer über ihn schreibt, die nötige Vorsicht walten lassen, um nicht selbst Opfer der auktorialen Rachsucht des Autors zu werden.
Das gilt nun auch bei «Ameisig», diesem Ungetüm eines Erstlingsromans des Drehbuchautors und Regisseurs. Schlagartig berühmt wurde er einst mit seiner Vorlage zum Film «Being John Malkovich» (1999) von Spike Jonze, wo eine geheime Passage vom siebeneinhalbten Stock eines Bürogebäudes direkt in das Hirn von John Malkovich führt. Auch später bei «Adaptation» (2002), ebenfalls von Spike Jonze, und «Eternal Sunshine of the Spotless Mind» (2004) von Michel Gondry waren es Kaufmans Drehbücher, in all ihrer überfordernd-originellen Surrealität stets an urmenschlichsten Nöten interessiert, die die Filme zu modernen Klassikern machten. Seit Kaufman selber auch Regie führt, bei «Synecdoche, New York» (2008) oder zuletzt bei «I’m Thinking of Ending Things» (2020), zeigt sich allerdings: Ungebremst durch eine vermittelnde oder interpretierende Instanz, stösst Kaufmans Fabulierkunst bald an die Grenzen der Verständlichkeit. Zumindest für profitable Hollywood-Karrieren verheisst dies in der Regel nichts Gutes.
Smarter Kaffee für dumme Leute
«Gott stehe Ihnen bei, wenn Sie in Ihrem Werk eine Erzählstimme verwenden.» Mit diesen Worten gelang es dem Drehbuchguru Robert McKee in «Adaptation» noch, einen der wehleidig philosophierenden Monologe von Charlie Kaufman (im Film gespielt von Nicolas Cage) zu unterbrechen. Mit «Ameisig» legt Kaufman jetzt wie zum Trotz 860 Seiten genau dieser Erzählstimme den faszinierten, überforderten, augenrollenden und staunenden LeserInnen vor, ungebremst auch durch jegliche Schranken filmischer Darstellbarkeit. Und natürlich ist sein Protagonist wiederum ein Alter Ego Kaufmans, auch wenn für B. Rosenberger Rosenberg jegliche Assoziation mit diesem «abscheulichen kleinen, geradezu absurd jüdischen Drehbuchautor» die grösstmögliche Beleidigung darstellt. Für eine plumpe Abrechnung mit der unliebsamen Kritikergarde ist Kaufman dann doch um einiges zu originell.
Möchte man sich so etwas antun: nicht nur für die Dauer eines Spielfilms in die unsere Synapsen strapazierende Innenwelt Kaufmans einzutauchen, sondern gleich für mehrere Wochen? Wer sollte sich dem aussetzen, abgesehen von FilmkritikerInnen, für die der Roman ohnehin Pflichtstoff ist? Und wie soll man überhaupt über ein Buch schreiben, das mit den treffendsten und lustigsten Beobachtungen über den aktuellen Zustand der USA und ihrer Filmkultur beginnt («Starbucks ist der smarte Kaffee für dumme Leute – der Christopher Nolan des Kaffees»), um bald in eine im besten Sinn grössenwahnsinnige kaufmansche Meditation über Erinnerung, Vergessen und die Natur der Realität auszuarten, samt virenerfindenden Ameisen aus der Zukunft? Und wie soll man sich an all das erinnern können, wenn auch nur für eine bescheidene Rezension?
Man müsste das wohl ähnlich angehen, wie es Filmkritiker Rosenberg tut. Dieser nimmt sich selbst und seinen Beruf auf eine dermassen überspitzte Weise wichtig, dass er jeden Film, den er besprechen soll, genau sieben Male schaut. Einmal als «namenloser Affe», frei von intellektuellem Vorwissen, Reflexion oder Ego – als reines Empfinden. Darauf folgen eine psychologisch informierte Betrachtung («Inwiefern handelt dieser Film von mir?») und eine filmformale, bei der Rosenberg aus seinem urgewaltigen Wissen über filmische Ästhetik und Geschichte schöpfen kann. Dann schaut er den Film einmal rückwärts, um die Kausalität auszuhebeln und weil er der festen Überzeugung ist, «dass das Warum kein unabhängiger Bestandteil des Universums ist». Dann noch einmal auf dem Kopf, um sich vom Dogma der Schwerkraft zu lösen, und als Letztes schaut er ihn einmal gar nicht.
All diese erprobten Techniken helfen unserem Filmkritiker freilich gar nichts, als er im Rahmen einer Recherche in Florida auf Ingo Cutbirth trifft. Diese zurückgezogen lebende, über hundertjährige Schwarze Rätselfigur hat während neunzig Jahren an einem animierten Film gearbeitet, der mutmasslich sämtliche Geheimnisse des Universums enthält und den noch niemand jemals gesehen hat. Nun will er sein Werk, das drei Monate dauert, dem Kritiker zeigen. Noch während der Vorführung, die «in Form eines verschwommenen und doch strahlenden Fiebertraums aus unvorstellbarem kinematographischem Glanz» vergeht, stirbt Ingo unvermittelt an Altersschwäche. Rosenberg schaut den Film alleine zu Ende und verpackt die Tonnen von Filmmaterial in einem Miettransporter, um das Werk daheim in New York weitere sechs Male anzuschauen, bevor ihm die Entdeckung des Filmes endlich zum lang verdienten Ruhm verhelfen würde.
Doch dazu kommt es nicht: Bei einem Zwischenhalt auf der Heimreise explodiert der Transporter samt Film in einer Feuersbrunst, und Rosenberg verliert sein Gedächtnis. Als er aus dem Koma erwacht, bleibt von Cutbirths Film nur noch ein einziges Frame übrig – sowie die Erinnerung an dessen einzige Sichtung in Rosenbergs Unterbewusstsein.
Versteckt auf der Metaebene
Der Rest des Romans handelt von den Versuchen des offen gestanden ziemlich nervtötenden Kritikers, den Film zu rekonstruieren – und zwar mittels Hypnose. Das hat für den weiteren Lesegenuss ziemlich bedeutsame Folgen, weil die Erinnerung samt deren Unzulänglichkeiten Kaufmans philosophischer Lieblingsspielplatz ist, auf dem er sich jetzt auch über Hunderte von Seiten ungeniert austobt. Die Realität, durch die Kaufman seine Figur jagt, wird, gelinde gesagt, ziemlich unzuverlässig. Der Kritiker entwickelt Obsessionen für verschiedene Frauen, weit jenseits der politischen Korrektheit. Das macht Rosenberg umso mehr zu schaffen, als dass er dieser immer auf manische Weise zu entsprechen versucht, indem er etwa keine Pronomen akzeptiert, die auf geschlechtlich eindeutigen Annahmen beruhen. Bis zum Ende bleibt dabei etwas unklar, ob und über wen sich Kaufman hier genau lustig macht.
Zum Ende hin, das immerhin noch etwa 300 Seiten dauert, fällt «Ameisig» in einen postmodern-psychedelischen Mahlstrom, auf dessen Grund nicht nur Tausende von Donald-Trump-Androiden, zeitreisende Literaturagenten und die Verheissungen von Ingos Film warten (der sich in Rosenbergs Erinnerung mittlerweile einer Transformation zum blonden Norweger unterzogen hat), sondern vielleicht auch die Geheimnisse der menschlichen Existenz, versteckt auf einer der unzähligen Metaebenen.
Und ist der Weg dahin auch voller Mühsal, fragwürdigem Humor, obskuren Filmtiteln und konträren Interpretationen der jüngeren Filmgeschichte, und droht dem Roman also ein ähnliches Schicksal wie David Foster Wallaces «Unendlicher Spass», den alle für genial halten, fast niemand aber zu Ende gelesen hat: Angenehmer, unterhaltsamer und transzendenter, als in einen offenen Kanalschacht zu fallen, ist die Erfahrung allemal.
Charlie Kaufman: Ameisig. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Verlag. München 2021. 864 Seiten. 50 Franken