Diesen Topos lieben wir: In der Schweiz meiden die Intellektuellen den Streit, weil das Land so eng ist - ausweichen ist fast unmöglich. Oder ist es vielleicht so, dass es heute schlicht nichts mehr zu streiten gibt (was nicht stimmen kann) - oder dass es keine streitbaren Intellektuellen mehr gibt?
In den achtziger Jahren war das anders: Im Winter 1983/1984 wurde in diesen Spalten während Monaten eine Kontroverse ausgefochten, die als «Realismusdebatte» sogar in den Traditionsbestand der helvetischen Germanistik eingegangen ist. Der singulären Auseinandersetzung eignet allerdings ein willkürliches Moment - als ob sie sich vor allem seinem Furor verdankte: demjenigen Meienbergs.
Ätzende Kritik
In der «Realismusdebatte» trafen nach dem Abflauen der Achtzigerbewegung zwei dezidiert linke und prominente Autoren aufeinander: Niklaus Meienberg (1940-1993) und Otto F. Walter (1928-1994). Am Anfang der Kontroverse aber stand eine WOZ-Redaktorin: Im Herbst 1983 verriss Corinne Schelbert Thomas Koerfers «Glut»: Der Film, der sich um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg drehte, sei leidenschaftslos und neutral, mache nicht betroffen und habe alles getilgt, was konkret auf die Schweiz verwiesen hätte (WOZ Nr. 37/83).
Dann kam Meienberg, doppelte nach und weitete aus. Er unterzog nicht nur den Film einer ätzenden Kritik, sondern auch Otto F. Walters neuen Roman «Das Staunen der Schlafwandler am Ende der Nacht», der in der WOZ kurz zuvor von Alois Bischof hymnisch gelobt worden war. Film und Buch, so Meienberg, seien hinter der Realität zurückgeblieben, die sie zu erfassen vorgäben: «Man freut sich immer, wenn ein bisschen Wirklichkeit aufs Tapet kommt, nicht mehr um sie herumgeschrieben (...), sondern in sie hineingeschrieben wird wie in einen Abszess, den man zum Platzen bringt.» Die beiden Autoren hätten «der Wirklichkeit nicht zuerst aufs Maul geschaut und sie erst dann überhöht», wie man es machen müsste; daher seien ihre Produkte «willkürlich ins Blaue hinaus fiktioniert» und also «sub-realistisch».
Weil man über deren «Unwirklichkeit» nicht diskutieren könne, werde es auch keine politische Diskussion geben (WOZ Nr. 43/83). Hier sprach der Recherchierjournalist, der für die Imaginationen der «Fiktionalisten» nur Verachtung übrig hatte. Die LiteratInnen liessen sich diese Predigt nicht gefallen: Rolf Niederhauser wehrte sich gegen den «Realismus-Zwang» («Ist die Wirklichkeit am Ende noch so wirklich, dass wir uns ihrer realistisch versichern können»?), Mariella Mehr berief sich auf ihre spezifische und private weibliche Realität («MUS oder sub-MUS ist meine Frage nicht, denn MUS bleibt MUS [...]»), Christoph Bauer pries die «schwarze funktion der literatur», Rahel Hutmacher störte sich am «WOZ-Herumgeurteile» («solang wir uns Vorschriften machen, wie die richtige Realität auszusehen hat: so lange sind wir Schreibenden [...] immerfort fürchtende Schwätzvögel»). Einzig Beat Sterchi und Andreas Simmen, der in Walters Buch «Opium fürs Volk» sah, schlugen sich auf Meienbergs Seite. Doch wie diese Stimmen vermuten lassen, kam keine vertiefte Auseinandersetzung um den Stellenwert des «Realismus» in der Kunst zustande.
Männlich-wehleidige Nabelschau
Liest man heute in Walters «Schlafwandler», wird man Meienberg und anderen KritikerInnen wie etwa Isolde Schaad zustimmen, dass das Buch trotz seiner aufwendigen Konstruktion misslungen ist. Ein knappes Vierteljahrhundert später sind die männlich-wehleidige Nabelschau, die Weltverbesserungsprogrammatik und besonders die Frauenfiguren - allesamt überkonstruierte Projektions- und Alibipuppen des Autors - geradezu unerträglich geworden. Dass sich Meienberg hingegen auch an Details wie dem stiess, dass Walter den «Tages-Anzeiger» - den kurz zuvor interne Konflikte um freie Meinungsäusserung erschüttert hatten, die im «Schlafwandler» eine wichtige Rolle spielten - nicht namentlich nannte, sondern als «Schweizer Zeitung» bezeichnete, ist heute nicht nachvollziehbar. Denn kommt ästhetisch gelungene Literatur - und nur als solche kann diese ein kritisch-reflektierendes Potenzial entfalten - nicht auch dadurch zustande, dass sie zur «Wirklichkeit» auf Distanz geht?
Auch wenn Meienberg sich auf Zola und Flaubert berief, auf literarische Realisten des 19. Jahrhunderts also, vertrat er keinen naiven Realismusbegriff: «Wenn man Klassenkampf machen will und hat zwar die richtigen Ansichten, aber in der Sprache selbst findet nichts statt, dann votiere ich im Zweifelsfall für Proust gegen Wallraff», sagte er im Gespräch mit Otto F. Walter und den WOZ-RedaktorInnen Lotta Suter und Fredi Lerch, das im April 1984 den abschliessenden Höhepunkt der Debatte hätte bilden sollen. Meienberg verlangte von der Literatur nicht, sie müsse «realistisch» im Sinne eines Abbilds der Wirklichkeit sein. Er pochte darauf, dass die Wirklichkeit, die in der Literatur vorkommt, wahrscheinlich, also recherchiert, sein müsse. Seiner Ansicht nach konnte eine Literatur, die sich um die Realität foutiert, nur affirmativ sein. Allerdings bestritt er nicht, dass sich auch die Reportage - zwangsläufig - fiktiver Mittel bedient. Walter wiederum, der in einer ersten Reaktion auf Meienbergs Verriss süffisant festgehalten hatte, er sei «kein Dokumentarist», gab diesem im Gespräch Recht, dass Schreiben auf einer «benennbaren» Realität beruhe, die durch «Experten» und «Fachliteratur» abgesichert sein müsse.
«So verhält sich ein Freund nicht»
Im Grunde, das wurde im langen WOZ-Gespräch deutlich, waren sich Meienberg und Walter, die sich beide als linke Aufklärer sahen, einig. Letzteren hatte vor allem der aggressive «Ton» des «Scharfrichters» verletzt. Das Gespräch nahm nur einmal eine heftige und kontroverse Wendung, als nämlich Meienberg Walter vorwarf, dieser habe seine - Meienbergs - Biografie für eine Figur im Roman «Verwilderung» (1977) ausgebeutet, ohne sich «wirklich» für ihn - Meienberg - interessiert zu haben. Er wiederholte damit den Vorwurf, den er Walter kurz zuvor brieflich gemacht und mit dem bereits früher geäusserten Ärger darüber verknüpft hatte, dass dieser in seiner Funktion als Leiter des Luchterhand-Verlags seine - Meienbergs - Gedichte abgelehnt hatte: «Du mit Deiner grässlichen N.M.=Blumer-Figur und mit Deiner pauschalen, schnoddrigen, schnell hingefetzten Ablehnung meines Buch-Manuskriptes (...). So verhält sich ein Freund nicht», schrieb Meienberg. Es macht den Anschein, dass der Journalist die Einschätzung des Belletristen nicht verwunden hatte. Jedenfalls führte die rücksichtslos formulierte Anschuldigung zum Zerwürfnis der Freunde und zur Beendigung der langjährigen Korrespondenz.
Zur Geschichte der «Realismusdebatte» gehört auch diese zerbrochene Freundschaft. Ohne Meienbergs schriftlichen Wutausbruch wäre die Debatte, die eigentlich keine war, weil die beiden Protagonisten einig gingen und sich die anderen DiskutantInnen nicht in die Thematik vertieften, kaum in Gang gekommen. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Debatte die JournalistInnen und SchriftstellerInnen mit der drängenden Frage nach ihrem Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontiert hat.
Und heute?
Reto Caluori: «Vom literarischen Stoff zum Konfliktstoff. Der Briefwechsel zwischen Niklaus Meienberg und Otto F. Walter». In: «Entwürfe» Nr. 24 (2000).
Die Wochenzeitung (Hg.): «Vorschlag zur Unversöhnlichkeit». Zürich 1984.
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