Kasachstan: Erzwungene Reformen in unruhigen Zeiten

Nr. 23 –

Kasachstan hat eine neue Verfassung. Vor dem Hintergrund des Krieges gegen die Ukraine soll sich die «Zweite Republik» stärker emanzipieren. Doch ohne echte Demokratisierung werden weder der politische Neuanfang noch die Abkopplung von Russland gelingen.

«Salemetsiz be!», begrüsst Alexei Skalozubow die rund 25 jungen Männer und Frauen in einem Co-Working-Space in Almaty, Kasachstans grösster Metropole im Südosten des Landes – «Guten Tag» auf Kasachisch. Obwohl die Muttersprache der meisten am Tisch Russisch ist, wird hier heute Kasachisch gesprochen, in einem kostenlosen Konversationsklub für alle, die die Landessprache lernen wollen.

Seit am 24. Februar Russland die Ukraine überfallen hat, wird die offizielle Staatssprache Kasachstans immer populärer. Bisher dominiert Russisch noch in den Städten. Für eine Karriere in der Wirtschaft oder der Politik ist die Sprache ein Muss. Jetzt könnte sich das ändern. Als der 26-jährige Skalozubow den Konversationsklub im April gründete, um selber besser Kasachisch zu lernen und anderen den Einstieg zu erleichtern, war er vom Interesse völlig überrascht. «Zum ersten Treffen kamen 250 Leute, ich hatte vielleicht 10 erwartet.» Skalozubow ist selbst ethnischer Russe aus dem Norden von Kasachstan, nahe der russischen Grenze. «Dort redet fast niemand Kasachisch, auch ethnische Kasachen bevorzugen Russisch.»

Russische Grossmachtfantasien

Kasachstan ist ein Vielvölkerstaat. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Zahl russischer Muttersprachler:innen stark zurückgegangen, weil viele ausgewandert sind; die kasachischsprachige Bevölkerung dagegen wächst. Heute sind fast siebzig Prozent der rund 19 Millionen Einwohner:innen ethnische Kasach:innen, knapp achtzehn Prozent ethnische Russ:innen, der Rest Ukrainer:innen, Tatarinnen, Uiguren oder Angehörige weiterer rund 120 Ethnien. «Angesichts des Krieges in der Ukraine», sagt Skalozubow, «werden jetzt vor allem russischstämmige Kasachen gefragt: ‹Auf welcher Seite stehst du? Bist du für oder gegen Russland?›» Er ist überzeugt: «Der grössere Teil der russischen Bevölkerung hier in Kasachstan würde, wie in der Ukraine, seine Heimat gegen Russland verteidigen.»

Jakow Worontsow ist sich dessen nicht so sicher. Der 36-Jährige ist Priester in der russisch-orthodoxen Christi-Himmelfahrt-Kathedrale in Almaty und heute zum zweiten Mal zum Sprachklub gekommen. «Wir leben in Kasachstan, also sollte jeder die Landessprache können», so seine Motivation. Zum Krieg in der Ukraine sagt er: «Der Grossteil meiner Bekannten, viele aus der älteren Generation, begrüsst den Krieg.» Er selber ist strikt dagegen und fürchtet sogar, seinen Priesterjob in der Kirche zu verlieren, weil er sich öffentlich gegen Russland ausspricht.

Kasachstan teilt eine 7500 Kilometer lange Grenze mit Russland und ist im russischen Fernsehen seit Jahren Projektionsfläche für dessen Grossmachtfantasien. Im April hatte der Moderator Tigran Keosayan, der Ehemann von Margarita Simonyan, der Chefin des russischen Propagandasenders RT, Kasachstan «Verrat an Russland» vorgeworfen und gedroht, dem Nachbarland könne das Gleiche bevorstehen wie der Ukraine. Der Grund für Keosayans Tirade: Kasachstan hatte angekündigt, am 9. Mai, dem Tag des Sieges über Nazideutschland, keine Militärparade abzuhalten – in Keosayans Augen ein Zeichen dafür, «wer Freund, wer Feind» sei. In Kasachstan wurden diese Äusserungen überwiegend ablehnend kommentiert. Das kasachische Aussenministerium hat ihn gar auf die Liste «unerwünschter Personen» gesetzt.

Umgehung der Sanktionen befürchtet

Kasachstan versucht, angesichts des Krieges gegen die Ukraine möglichst neutral zu bleiben. Doch das ist gar nicht so einfach, denn es bestehen politische und wirtschaftliche Abhängigkeiten. Anfang April hatte Aussenminister Muchtar Tileuberdi erklärt, Kasachstan erkenne die sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der Ukraine nicht an. Als jedoch die Uno-Generalversammlung Ende März über eine Resolution abstimmte, die Russland für seinen Angriffskrieg verurteilte, enthielt sich Kasachstan. Eine grosse Demonstration in Almaty zur Unterstützung der Ukraine im März wurde genehmigt, andere mit dem gleichen Ziel verboten. Offene Kritik an Russland übt in Kasachstan kaum jemand.

Die kasachische Osteuropahistorikerin Botakoz Kassymbekowa, die an der Universität Basel lehrt, ist überrascht, dass Kasachstan mehrfach öffentlich die Souveränität der Ukraine hervorgehoben und klargemacht hat, keine Truppen für Putins Krieg schicken zu wollen. «Diese mutige Position», sagt sie, «ist damit zu erklären, dass Kasachstan tatsächlich seit Jahren nach echter Souveränität strebt und nicht von Russland regiert werden will. Aber auch damit, dass die kasachische Elite nicht unter Sanktionen und deren Folgen leiden und nicht gemeinsam mit Russland hinter einem neuen Eisernen Vorhang sein will.»

Das autoritär regierte Kasachstan gilt eigentlich als russlandtreu. Russland ist neben China und der EU der wichtigste Handelspartner. Das zentralasiatische Land gehört mit Kirgistan, Belarus und Armenien der 2015 gemeinsam mit Russland gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) an. Das Handelsvolumen innerhalb der EAWU betrug letztes Jahr 72,6 Milliarden US-Dollar, eine Steigerung um knapp zwanzig Prozent gegenüber 2019, dem Jahr vor der Coronapandemie. Allein in Kasachstan kommen mehr als ein Drittel der Importe aus Russland.

Umgekehrt ist Russland ein wichtiger Abnehmer des kasachischen Exportsektors. Die vom Westen verhängten Sanktionen gegen Russland und die damit einhergehende sinkende Kaufkraft haben entsprechend unmittelbare Folgen für Kasachstan. Hinzu kommt, dass die meisten Ölexporte über Russland laufen. Und als Transitland des chinesischen Wirtschaftsgrossprojekts «Belt and Road Initiative» ist Kasachstan auch auf sonstige Transporte nach und aus Russland angewiesen. Schliesslich versuchen zurzeit zahlreiche russische Unternehmen, ihr Geschäft auf kasachische Tochtergesellschaften auszulagern. «Als Mitglied der EAWU könnten wir zur Umgehung der Sanktionen missbraucht werden», sagt Vizeaussenminister Roman Wassilenko. «Aber das wollen wir auf keinen Fall.»

Russland ist für Kasachstan nicht zuletzt auch ein wichtiger Sicherheitspartner. Beide Länder gehören mit Kirgistan, Tadschikistan, Belarus und Armenien der 1992 gegründeten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) an. Als Kasachstan im Januar dieses Jahres von blutigen Unruhen erschüttert wurde, eilten russische Truppen im Rahmen eines OVKS-Mandats dem Präsidenten Kassym-Jomart Tokajew zu Hilfe, um sein Amt zu sichern und die Lage zu stabilisieren.

Der «blutige Januar», wie jene Tage genannt werden, war eine Zäsur für das Land. Regierungsangaben zufolge kamen 238 Menschen ums Leben, über 4500 wurden verletzt, mehr als 10 000 verhaftet. Viele Opfer kamen durch Regierungstruppen um, denen der Schiessbefehl erteilt worden war. Auslöser der Unruhen war eine friedliche Protestwelle im Westen des Landes gewesen, die sich anfangs gegen Preiserhöhungen gerichtet hatte und dann mit der Forderung nach mehr politischer Teilhabe das ganze Land erfasste.

Eine umfassende Analyse der Ereignisse hat die kasachische Regierung bis heute nicht vorgelegt. Doch Recherchen von Human Rights Watch und lokalen Initiativen legen nahe, dass offenbar gewalttätige Akteure aus dem Umfeld von Expräsident Nursultan Nasarbajew die friedlichen Proteste instrumentalisierten, um das Land zu destabilisieren.

Breite Zustimmung

Die Antwort des aktuellen Präsidenten, Kassym-Jomart Tokajew, auf die Januarunruhen sind umfangreiche politische und wirtschaftliche Reformen. Denn auch er hat verstanden, dass die innenpolitische Krise längst nicht ausgestanden ist. «Neues Kasachstan» nennt er sein Reformprogramm. Es soll der Kern seiner sogenannten Zweiten Republik werden – eine bewusste Distanzierung von seinem Vorgänger Nasarbajew, der 2019 zurückgetreten war, aber bis zu den Unruhen im Januar die Fäden der kasachischen Politik weiter in der Hand gehalten hatte.

Das Reformpaket sieht vor, dass sich Kasachstan von der «superpräsidialen» Republik der Nasarbajew-Ära zu einer präsidialen Republik wandelt. Der Präsident soll weniger Befugnisse haben, das Parlament deutlich mehr. Kernstück ist das Referendum über die Verfassungsänderung, das am vergangenen Wochenende über die Bühne ging und von drei Vierteln der Abstimmenden gutgeheissen wurde.

Über die Hälfte der insgesamt 98 Verfassungsartikel wird nun geändert. Unter anderem wird der Sonderstatus von Expräsident Nasarbajew als Führer der Nation getilgt. Seine Immunität allerdings verliert dieser nicht, eine Strafverfolgung wegen Korruption und Machtmissbrauch muss er kaum fürchten. Zudem soll künftig kein Präsident mehr Chef einer Partei oder des Verfassungsrats sein, nahe Verwandte des Präsidenten sollen keine politischen Ämter mehr innehaben oder im staatlichen Sektor tätig sein dürfen. Parteien sollen leichter zu registrieren sein.

Abstreifen des sowjetischen Erbes

Es war schon vor der Abstimmung über die Verfassungsänderungen klar, dass das Referendum angenommen wird. Und genau das ist einer der Kritikpunkte an Tokajews «Neuem Kasachstan». «Das Referendum hat sich nicht von bisherigen Wahlen unterschieden, bei denen der Präsident die volle Kontrolle über den Ausgang hatte», sagt der kasachische Politologe Dimasch Alshanow. Er kritisiert, dass die Verfassungsänderungen vorab nicht öffentlich diskutiert, sondern eigenständig von der Regierung vorgenommen wurden. «Die Änderungen sind rein kosmetischer Natur.» Dieselben Machthaber wie bisher blieben am Ruder. «Alle diese Änderungen sollen lediglich das Image des Regimes auffrischen, sie sollen die Distanzierung von Nasarbajew markieren, damit sein Nachfolger Tokajew an der Macht bleiben kann», so Alshanow. «Das System aber bleibt dasselbe.» Die angekündigten Reformen seien nicht mehr als «ein Versuch, den Leuten einen Vorwand zu nehmen, erneut gegen das jetzige politische System vorzugehen».

Auch Osteuropahistorikerin Kassymbekowa ist skeptisch: «Es ist schwierig, das Programm überhaupt als Reformen zu bezeichnen, weil diese keine echte Restrukturierung und keinen Pluralismus bedeuten. Sie werden in Kasachstan von der Zivilgesellschaft mit Zynismus betrachtet, weil sie tatsächlich nichts Neues bieten.»

Jedoch ist Kassymbekowa eine von mehreren Wissenschaftler:innen aus Zentralasien, die in der jetzigen Situation – nach den Unruhen im Januar und verstärkt durch den Ukrainekrieg – eine grosse Chance für eine Demokratisierung Kasachstans sehen, die mit einer «mentalen Loslösung von Russland» zu einem «nationalen und linguistischen Erwachen» führen könnte. Es gehe dabei aber nicht um nationalistische Tendenzen, sondern um das Abstreifen des sowjetischen und des kolonialen Erbes, das auch die heutige Politik im autoritären Kasachstan noch immer bestimme.

«Eine robuste nationale Identität kann aber nur gesellschaftlich entwickelt werden. Ohne Zivilgesellschaft, Demokratie und tatsächliche Reformen, an denen sich die Bevölkerung beteiligt, wird diese Bewegung früher oder später in eine Krise geraten», sagt Kassymbekowa.