Mahraganat: Je greller, desto besser

Nr. 23 –

Genre, Mythos, Subkultur und Projektionsfläche: Mahraganat heisst die Musik, zu der ganz Kairo tanzt. Ein Backstagebesuch in Zürich – bei dem sich zeigt, was zum Vorschein kommt, wenn der Saal leer bleibt.

Der Beweis für eine lebendige Subkultur ist, dass man sie nicht recht fassen kann: Der Mahraganat-Rapper Alaa fifty letzte Woche in Stuttgart. Foto: Tobias Heyel

«Hast du das Instagram-Video von gestern Nacht in Stuttgart schon gesehen?», fragt Tourveranstalter Phil Battiekh per Telefon, noch bevor es im «Moods» überhaupt losgegangen ist. Irgendwie scheinen bereits alle zu wissen, dass die grosse Party hier – anders als in Süddeutschland – nicht zünden wird. Nur etwas über 200 Ägypter:innen leben laut dem Zürcher Präsidialdepartement in der Stadt. Und auch das weltläufige Publikum von da und dort, auf der Suche nach einer ungehörten Tanzmusik, hat den von der Kantonalbank getäferten Jazzclub nicht auf der Rechnung.

Das Konzept Laufpublikum gehört in Kairo vermutlich eher weniger zum Wortschatz, aber für die Strassenparty braucht es keine Einladung: zum Beispiel in ärmeren Vierteln wie El-Salam City, wo diese Musik namens Mahraganat aus den Sammeltaxis scheppert, Tuk-Tuk für Tuk-Tuk durch die Gassen. Alle, die über diese Musik sprechen, erzählen von deren Omnipräsenz im öffentlichen Raum. Sie erzählen, wie in den Abend- und Nachtstunden die typische Party in El-Salam schlicht Hochzeit bedeutet und mitten auf der Strasse gefeiert wird – ein Umstand, den die Mahraganat-Subkultur von der traditionelleren Volksmusik des Shaabi geerbt hat, auch das seit jeher eine Hochzeitsmusik. Auf der einen Seite der rasch hingemachten Wedding-Partybühne tanzen dann die Männer, auf der anderen die Frauen, beidseits frenetisch, es werden Fackeln in der Nachtluft entbrannt, Deosprays angezündet, Leute wirbeln über der Menge herum, die Männer reissen sich ihre T-Shirts vom Leib. Auf der Bühne DJs und MCs.

Einer ihrer berühmtesten heisst Alaa fifty. Er ist aus El-Salam City; der Stadtteil war vor etwa fünfzehn Jahren die Brutstätte der Subkultur Mahraganat. Alaa sei so etwas wie der Taufpate des Genres, sagt backstage in Zürich dessen Manager Bego. Es riecht hier oben nach Deospray, Zigaretten und ein bisschen auch nach Männerschweiss. Wer noch Mahraganat ist und wer schon Trap, wer wichtig war und blieb für die Szene, wer das Genre verraten oder von seinen Ursprüngen entfremdet hat – am Ende aller Diskussionen unter Managern, MCs und Produzenten stehen auch verschiedene Konzepte von Mahraganat im Raum. Niemand scheint genau zu wissen, was damit eigentlich bezeichnet wird. Der Beweis für eine lebendige Subkultur: dass man sie nicht recht fassen kann.

«Es lässt sich nur aus sich selbst erklären», sagt auch Phil Battiekh, der dazu einen Stammbaum der wichtigsten Produzenten aus Vergangenheit und Gegenwart aufs Papier kritzelt. Battiekh ist das Pseudonym jenes Basler DJs, der seit knapp zehn Jahren in Europa für den musikalischen Untergrund Kairos weibelt. Er hat dafür überhaupt erst angefangen, hinter dem DJ-Pult zu stehen. Seit 2012 fliegt er, zunächst als Student der Near and Middle Eastern Studies, später als Mahraganat-Infizierter, so oft wie möglich nach Ägypten und hat sich in der Hauptstadt ein engmaschiges Kontaktnetz erarbeitet. Seit vier Tagen ist er mit drei ägyptischen Künstler:innen auf Tournee.

Aufgekratzte Musik

Und wie klingt das, wenn der USB-Stick langsam heissläuft? Ein bisschen wie ägyptischer Reggaeton, darüber ist sich die Diskussionsrunde hinter der Bühne einig. Die rhythmischen Grundlagen hat Mahraganat vom ebenfalls ägyptischen Shaabi übernommen, weshalb der Begriff «Electro Shaabi» in der westlichen Berichterstattung herumgeistert, der von der Szene allerdings weitgehend abgelehnt wird. Die Perkussionswelt von Mahraganat, was nichts weiter als «Festivals» heisst, ist üppig instrumentiert: Schellen, Claps, schwere Pauken oder deren elektronisch verfremdete Entsprechungen in hoher Dichte. Weiter eine Vorliebe für den schmückenden Einsatz von Darbukas und tablaähnlichen Trommeln aus ägyptischen Volksmusiktraditionen. Darüber von Autotune gegen den Strich gebürstete Stimmen, manchmal Rap – und die fliegenden, in schnellen Tonfolgen gespielten Synthesizer. Je greller, desto besser. Es ist eine aufgekratzte Musik, als wollten die Lücken im mittleren Frequenzspektrum von den herumwirbelnden Körpern einer Menschenmasse in Ekstase, all den Nebengeräuschen des Rauschs und der Stadt erst gefüllt werden.

«Ich singe über das, was mich gerade beschäftigt, es ist wie ein Tagebuch», sagt Abosahar, der aus einem ländlichen Gebiet Oberägyptens stammt, wo man vor allem den Wind in den Feldern hört und die Geräuschkulisse Kairos weit weg ist. Grundsätzlich wird Mahraganat von Lyrik über das Alltägliche geprägt, das Derbe und Unverblümte, da und dort gehts auch um Politik, meist eher als diffuser Ausdruck von Unzufriedenheit denn als politische Programmatik. Und: Zu Mahraganat tanzen alle, Protestierende gegen die herrschende Politik ebenso wie Anhänger der Regierung von Präsident Abdel Fattah al-Sisi, die Leute in den ärmeren Aussenbezirken Kairos, die behüteteren Kids aus der Mittel- und Oberschicht. Was vor ein paar Jahren in Europa gerne als «Soundtrack der Revolution» vermarktet wurde, scheint in Wahrheit mehr, aber eben auch komplizierter: Mahraganat ist die Popkultur einer von vielschichtigen Ungerechtigkeiten geprägten und gespaltenen Gesellschaft. Alles andere sei «orientalistische Verzweckung», sagt Battiekh.

Wer eignet es sich an?

Vielleicht ist es gerade der fast leere Club in einer der reichsten Städte der Welt, der diese gesellschaftliche Komplexität auch als strukturelle Miniatur offenlegen muss. Weil die Bilder einer schweissnassen, tanzend-taumelnden Menschenmasse, die Projektion von Einheit, für einmal ausbleiben? Als irgendwann erst kurz vor ihrem Auftritt die Kairoer DJ El Kontessa, ebenfalls Teil dieser Entourage, den Backstage betritt, ist die Stimmung spürbar angespannt. Die Frage, wie es ihr gehe, will sie inmitten der Crew nicht beantworten. Später an der Bar berichtet sie von einem Streit am ersten Reisetag, ausgehend von einem sexistischen Witz. Davon, wie sie seither unter anhaltender Ausgrenzung zu leiden habe.

Die Beschuldigten geben zu Protokoll, dass sich die Künstlerin gegen alle Schlichtungsversuche gestellt und zahlreiche Entschuldigungsangebote ausgeschlagen habe. Sie vermuten hinter der Blockade ein klassistisches Ressentiment, das die obere Mittelschicht Kairos, aus der El Kontessa kommt, gegen ärmere Quartiere wie El-Salam hegt. Am Schluss überlagern sich die Diskurse und Sprachen, in denen sie überhaupt geführt werden können, zu einer kommunikativen Pattsituation. Im Tourbus heisst das: Scheissstimmung.

Was macht eine vordergründig private Anekdote denn im Konzertbericht? Sie verweist auf strukturelle Spannungen, auf die Kräfte, die Mahraganat vielleicht erst so explosiv machen: Wer behauptet sich wie gegen die Ungleichheit? Was heisst Authentizität, wenn du aus El-Salam kommst? Was, wenn du aus Oberägypten stammst und dich in Kairo durchschlagen musst? Wenn du in dieser grossen Stadt aufgewachsen bist und Kunst studiert hast? Und wer trägt Mahraganat über welche Kanäle in die Welt, eignet es sich an und grenzt sich ab?

Dass sich die Künstlerin El Kontessa mit ihrem Bildungsrucksack dann mitunter auch meilenweit von den Ideen, die Stunden zuvor backstage ohne sie verhandelt wurden, wegspielt und zur Mitte ihres Sets einen südafrikanischen Gqom-Track einbaut – es mag den einen als Ausdruck künstlerischer Offenheit und Raffinesse, den anderen als Überheblichkeit gelten. Der Saal: leider längst leer. Die gesamte Tourcrew hat sich ins Hotel zurückgezogen, während El Kontessa ihren Abschlusstrack immer langsamer dreht, als wolle sie die zähe Situation illustrieren. Über die letzten Takte hört man den müden Barmann, wie er die Stühle aufstapelt, polyrhythmisch.

Verschiedener musikalischer Mahraganat-Tropen nimmt sich die Compilation «Kairo Concepts» an, 2019 zusammengestellt und herausgegeben von Phil Battiekh.