Migration: Diskrete Ausschaffung hinter den Kulissen
Nach Jahren als Sans-Papiers in der Schweiz wird Abdel Brahimi nach Algerien ausgeschafft. Hat Justizministerin Keller-Sutter mit dem Maghrebstaat eine neue Praxis ausgehandelt?
Das Gerücht habe schon vor einigen Monaten die Runde gemacht, erzählt Abdel Brahimi, der eigentlich anders heisst: «Von mehreren Seiten habe ich gehört, dass bald neue Möglichkeiten bestünden, um Algerier:innen auszuschaffen.» Die Angst sei umgegangen. «Ich wurde auch nervös», sagt Brahimi. Aber es blieb ihm trotzdem nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sich das Gerücht nicht bewahrheiten würde.
Dann wurde er verhaftet. Mithilfe seiner Anwältin legte er sofort Einsprache gegen die verfügte Ausschaffungshaft ein. Aber noch bevor er eine Antwort erhielt, wurde er in ein Flugzeug gesteckt, gefesselt und, von Sicherheitspersonal begleitet, nach Algerien ausgeschafft. Zwei Tage später meldete sich seine Anwältin bei ihm: Seine Einsprache war erfolgreich. Er hätte aus der Ausschaffungshaft entlassen werden müssen.
Als er mit der WOZ telefoniert und seine Geschichte erzählt, ist er bei seinen Eltern in Algerien – zum ersten Mal seit zwanzig Jahren. So lange hat er in der Schweiz gelebt. Die meiste Zeit davon ohne legalisierten Aufenthaltsstatus als sogenannter Sans-Papiers. Einschlägige Vorstrafen hat er keine. Er musste sein Leben vor den Behörden verstecken, aber hatte ein grosses soziales Umfeld, spricht Deutsch, ist über die Runden gekommen. Er sagt: «Früher hätte so eine Ausschaffung nie geklappt, und das hat mir immer Sicherheit gegeben.»
Der Rettungsanker
Die Schweiz und Algerien verfügen eigentlich schon seit 2006 über ein Rückübernahmeabkommen, das «die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr» nach Algerien regelt, wie die Medienstelle des Staatssekretariats für Migration (SEM) schreibt. Im Vergleich zu anderen Abkommen war dasjenige mit Algerien aber immer limitiert: Ausschaffungen nach Algerien dürfen nur auf Linienflügen erfolgen. Im Gegensatz dazu sind etwa nach Marokko auch Ausschaffungen auf dem Seeweg vorgesehen, also mit Fähren. Üblich ist ausserdem die Möglichkeit, sogenannte Sonderflüge durchzuführen, um Personen mit besonders repressiven Mitteln auszuschaffen. Die algerische Regierung lässt das nicht zu.
Stattdessen fanden nach Kenntnisstand der WOZ lange alle Ausschaffungen nach Algerien von Genf aus mit Linienflügen der Fluggesellschaft Air Algérie statt. Diese gehört dem algerischen Staat. Wenn sich eine Person, die ausgeschafft werden sollte, im Linienflug stark wehrte, konnte die Ausschaffung in der Regel nicht vollzogen werden.
Ein Umstand, der den Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller schon lange stört. In einer Interpellation von 2017 bemängelte er, dass Air Algérie «sich weigere, renitente oder unkooperative Auszuschaffende an Bord zu nehmen». Seine Parteikollegin Karin Keller-Sutter musste später als Bundesrätin Stellung nehmen, was sie dagegen zu unternehmen gedenke.
Auch die Bundesrätin konnte aber bloss auf die Regeln des Luftverkehrs verweisen, nach denen eine Bordkommandantin das Recht hat, «stark renitente Personen» von einem Flug auszuschliessen. Diese Regel ist für viele algerische Staatsangehörige ein Rettungsanker, um in der Schweiz bleiben zu können.
Seit mehreren Jahren machen Algerier:innen den grössten Anteil der Personen aus, die das Land aus Sicht der Behörden verlassen müssten. Gemäss der Asylstatistik des SEM werden derzeit etwas mehr als 600 von ihnen dem «Bestand Rückkehrunterstützung» zugerechnet. Hinzu dürften viele weitere Personen mit algerischem Pass kommen, die von den Schweizer Behörden nicht erfasst werden, weil sie untergetaucht sind, so wie es Abdel Brahimi jahrelang war.
Ihre Ausschaffung erklärte der Bundesrat in den letzten Jahren zur Chef:innensache. Gemäss der aussenpolitischen Strategie für die Region «Mittlerer Osten und Nordafrika» ist die «konsequente Umsetzung des mit Algerien unterzeichneten Abkommens» einer von nur drei diplomatischen Schwerpunkten, die mit Algerien verhandelt werden sollen. Im Frühling 2021 reisten sowohl Aussenminister Ignazio Cassis als auch Karin Keller-Sutter nach Algerien. Im Fokus auch hier wieder: die aus Sicht Keller-Sutters unbefriedigende Umsetzung des Rückübernahmeabkommens.
Umsteigen in Istanbul
Beim Treffen in Algerien ging es dann offenbar vorwärts: In einer Medienmitteilung ihres Departements heisst es, dass sie und der algerische Innenminister Kamel Beldjoud vereinbart hätten, «nach praktischen Lösungen» zu suchen. Das Aussendepartement schreibt auf Anfrage, dass mit Algerien «regelmässig ein spezifischer Dialog über die Zusammenarbeit im Bereich der Migration» stattfinde, zuletzt im Mai dieses Jahres.
Abdel Brahimi wurde zwar mit einem Linienflug ausgeschafft – aber nicht in einem Flugzeug von Air Algérie. Von Zürich Kloten aus wurde er mit einem Linienflug von Turkish Airlines nach Istanbul gebracht und von dort aus weiter nach Algier. «Ich habe mich zwar zu wehren versucht», erzählt er. Der Pilot sei aber trotzdem gestartet. «So haben sie es jetzt also doch noch geschafft, mich loszuwerden.»
Verhandeln ohne Druck
Brahimi sagt, er sei kein Einzelfall. Wenige Kilometer von seinem jetzigen Aufenthaltsort befinde sich ein weiterer Algerier, der über Istanbul ausgeschafft worden sei. Schon im Ausschaffungsgefängnis sei auffällig gewesen, wie viele Algerier:innen dort inhaftiert gewesen seien. Fast alle hätten so wie er mehrere Jahre lang unbehelligt in der Schweiz gelebt.
Die für das Gefängnis verantwortliche Zürcher Justizdirektion kann keinen Überblick über die Staatsangehörigkeit der inhaftierten Personen geben. Die auf Migrations- und Asylrecht spezialisierte Organisation Zurich Legal bestätigt aber: «Wir beobachten derzeit eine Intensivierung der Bemühungen, algerische Staatsbürger, die sich bereits weit über zehn Jahre in der Schweiz aufhielten, auszuschaffen.» Brahimi glaubt, der Beweis dafür zu sein, dass der Bundesrat eine neue Übereinkunft mit Algerien erzielt hat: dass «praktische Lösungen» gefunden wurden.
Das SEM will keine Antwort darauf geben, ob sich die Praxis verändert habe. Es verweist bloss auf das Rückübernahmeabkommen von 2006. Aus den Absichten, die Algerier:innen loszuwerden, hat Karin Keller-Sutter allerdings nie einen Hehl gemacht. Wenige Tage vor ihrer Abreise nach Algerien 2021 erläuterte sie im Ständerat ihre Pläne. Anlass dafür war eine neuerliche Motion von Damian Müller. Er forderte darin, dass der Bundesrat mit Algerien über Rückführungen auf dem Seeweg verhandelt.
In der Debatte beteuerte Keller-Sutter erneut, alle Möglichkeiten auszuloten, um den Vollzug von Rückführungen zu vereinfachen. Und sie fügte an: «Ich möchte in der Öffentlichkeit nicht darüber sprechen, was unsere Pläne sind, weil es immer etwas delikat ist, wenn man diese Länder bereits mit öffentlichen Verlautbarungen unter Druck setzt.» Es sei einfach besser, «wenn man hier diskret hinter den Kulissen arbeitet».