Ausschaffungen nach Somalia: Die Sache mit dem Sonderflug
Der Fall eines somalischen Ausschaffungshäftlings und interne Dokumente zeigen: Die Migrationsbehörden tun alles, um Somalier:innen loszuwerden.
Es war eine peinliche Affäre: Im Juli 1996 begleiteten zwei Zürcher Kantonspolizisten einen Ausschaffungshäftling auf einem Sonderflug nach Somalia. Nach der Landung in Mogadischu zwangen bewaffnete Soldaten die Beamten zum Verlassen des Flugzeugs, nahmen sie fest und brachten sie ins Gefängnis.
Als Begründung gaben die somalischen Behörden an, nichts über die Rückführung gewusst zu haben, auch hätten die Polizisten keine Angaben zum schlechten Gesundheitszustand des 41-Jährigen gemacht. Nach einem Wochenende in Haft und der Zahlung von 20 000 Franken Lösegeld durch die Schweiz konnten die Beamten zurückkehren – unter der Bedingung, dass sie den Somalier wieder mit nach Zürich nehmen. Die misslungene Ausschaffung wurde damals tagelang in den Medien breitgetreten.
Fast drei Jahrzehnte später erinnern die Erlebnisse von Abdu Farah an die Ereignisse von damals. Im Juli trugen vier Zürcher Kantonspolizisten den Somalier, der eigentlich anders heisst, in ein Flugzeug der Turkish Airlines. An einen Stuhl gefesselt, konnte Farah sich nur durch Schreie bemerkbar machen. Über Istanbul sollte er nach Mogadischu ausgeschafft werden. Noch bevor andere Passagier:innen die Maschine betraten, brach der Pilot den Flug jedoch ab – Farahs Schreie waren zu laut. Es war schon das zweite Mal, dass sein Widerstand eine Ausschaffung verhinderte.
Der WOZ liegen Abdu Farahs Migrationsakten mitsamt den Polizeirapporten vor. Darin findet sich auch eine Mitteilung des Staatssekretariats für Migration (SEM) ans Zürcher Migrationsamt vom 11. August. Das SEM schreibt, die Behörde solle auf weitere Ausschaffungsversuche per Linienflug verzichten. «Vielmehr möchten wir versuchen, einen Sonderflug durchzuführen, sobald noch ein oder zwei weitere Kandidaten ihre Rückführung per Linienflug verweigert haben», so die zuständige Länderverantwortliche des Amts in der Mitteilung.
Druck aus Europa
Dass Somalia gefährlich ist, daran besteht kein Zweifel. Die islamistische Terrormiliz al-Schabab kontrolliert weite Teile des Landes, Anschläge sind an der Tagesordnung, das Aussendepartement warnt vor Reisen. Dennoch hält es die Schweiz offenbar für sicher genug, um abgewiesene Asylsuchende dorthin auszuschaffen. Ein Rückübernahmeabkommen, das systematische Ausschaffungen erlauben würde, existiert bis anhin nicht. Zwangsrückführungen waren bisher nur in sehr limitiertem Umfang möglich und wurden immer wieder über Jahre ausgesetzt. Insgesamt liessen die somalischen Behörden auf Antrag der Schweiz seit 1996 46 Abschiebungen per Linienflug zu – zwei davon allein diesen September.
Das SEM möchte den seit zwölf Jahren in der Schweiz lebenden Abdu Farah nun also mit einem Sonderflug aus dem Land bringen. Auf einem Flug ohne reguläre Passagier:innen bleibt Widerstand für gewöhnlich zwecklos und steht systematischen Ausschaffungen nicht im Weg. Es gibt keine Hinweise, dass seit dem Fiasko von 1996 jemals wieder ein solcher Flug gechartert wurde. Das SEM hält sich auf Anfrage bedeckt: Es gebe grundsätzlich keine Auskünfte zu Destinationen von Sonderflügen.
Wie in den Akten von Farah nachzulesen ist, versucht das SEM seit Jahren erfolglos, die Ausschaffungen nach Somalia voranzutreiben. Dass Somalia plötzlich einem Sonderflug zustimmen würde, ist nur aufgrund anhaltenden Drucks weiterer europäischer Staaten vorstellbar. Auf dem X-Profil der somalischen Immigration and Citizenship Agency finden sich unzählige Berichte von Besuchen europäischer Regierungsvertreter:innen, die die Funktionsweise solcher Druckversuche illustrieren.
Vordergründig geht es dabei um die somalische Grenzsicherheit, den Ausbau der ID-Systeme oder die Migrationsverwaltung. Die Unterstützung gründet allerdings wohl nicht zuletzt auch im Interesse der jeweiligen Regierungen, Abschiebungen zu ermöglichen: So finanzierte etwa Finnland den Bau des Hauptquartiers der Einwanderungsbehörde in Mogadischu mit 6,8 Millionen US-Dollar und erwirkte gleichzeitig dieses Jahr die – zuvor unmögliche – Abschiebung von acht Somaliern.
Ablehnung in Somalia
Auch die Schweiz scheint keinen Aufwand zu scheuen, um die systematische Ausschaffung somalischer Staatsbürger:innen zu erreichen. Das zeigen mehrere Dienstreiseberichte von SEM und Aussendepartement, die die WOZ per Öffentlichkeitsgesuch erhalten hat. Demnach traf eine SEM-Delegation im April 2024 in Mogadischu Vertreter:innen der Migrationsbehörden. Dabei sicherte Somalia der Schweiz zu, Zwangsrückführungen zuzulassen – und 2025 eine neue «Return Policy» einzuführen, die eine formalisierte Zusammenarbeit mit der Schweiz ermöglichen würde. Am Ende des Berichts findet sich zudem die Ankündigung, dass die Schweiz Somalia zeitnah «Fälle im Rückkehrbereich» unterbreite.
Nur drei Tage später besuchten zwei Mitarbeitende der Schweizer Botschaft in Nairobi die somalischen Migrationsbehörden. Das Fazit des Treffens lässt sich ebenfalls einem der Reiseberichte entnehmen: «Die Immigration and Citizenship Agency zeigte sich zwar einigermassen offen für unfreiwillige Rückkehr, signalisierte jedoch klar, dass sie mit einer kontinuierlichen Unterstützung durch die Schweiz rechne.»
Im Februar setzte die Schweiz Gisela Schluep als neue Immigration Liaison Officer in Nairobi ein – mit Zuständigkeiten für Somalia und Eritrea. Laut Abdu Farahs Akten erhoffte sich das SEM durch die neue Vertreterin auch bei seiner Ausschaffung Fortschritte. Bereits einen Monat nach Schlueps Amtsantritt – auch das ist den Akten zu entnehmen – wäre eine weitere Dienstreise nach Somalia geplant gewesen, stattdessen luden die Schweizer Behörden im Juli eine sechsköpfige somalische Delegation nach Bern ein: Die Schweiz übergab Somalia moderne Geräte zur Überprüfung von Reisedokumenten und unterzeichnete ein Abkommen zur technischen Zusammenarbeit. Im September fand unter Schlueps Leitung dann ein zehntägiges «Cybersecurity Training» in Mogadischu statt.
Der Journalist Abdalle Ahmed Mumin ist Generalsekretär der somalischen Journalist:innengewerkschaft und beschäftigt sich seit längerem mit den Ausschaffungen aus Europa. Er sagt: «Die Schweiz versucht, mit der Unterstützung bei der Infrastruktur im Migrationsbereich und bei den Grenzkontrollen ihren Rückführungsbemühungen Nachdruck zu verleihen.» Trotz dieser Unterstützung hätten die somalischen Behörden bisher jedoch keine grundsätzliche Zu- oder Absage bezüglich der Sonderflüge erteilt, schreibt das SEM dem Zürcher Migrationsamt in der erwähnten Mitteilung. Gerade weil eine Absage ausstehe, hält die Behörde am Sonderflugplan fest. Und schreibt weiter: «Das Thema ist in Somalia sehr heikel.»
In der somalischen Öffentlichkeit, sagt Ahmed Mumin, stiessen die Rückführungen auf viel Ablehnung. Das unabhängige Newsportal «Horn Observer» berichtete kürzlich, Somalias Sicherheitsminister, der die Schweizer Delegation zuletzt in Mogadischu begrüsst hatte, lehne die Aufnahme aus Finnland und der Schweiz ausgeschaffter Personen ab, weil eine Rückkehr nach Somalia für diese nicht sicher sei.
Als Nächstes Eritrea?
Um den Widerstand der somalischen Bevölkerung zu umgehen, könnte ein besonderes Vorgehen des SEM helfen, auf das sich Hinweise in Abdu Farahs Akten finden: Für eine Ausschaffung benötigt die Schweiz normalerweise ein sogenanntes Laisser-passer des Herkunftslands. Dieses Ersatzreisepapier bestätigt die Identität der Betroffenen und ermöglicht die Abschiebung. Solange das Herkunftsland kein solches ausstellt, galt bis anhin auch eine Ausschaffung als unmöglich – Somalia aber erteilt das Dokument nur für die freiwillige Rückkehr. Für die Ausschaffung von Abdu Farah erstellte das Schweizer Justizdepartement (EJPD) kurzerhand ein eigenes Laisser-passer – eine Praxis, die weder Asylrechtsanwältinnen noch ehemaligen SEM-Mitarbeitenden, die die WOZ kontaktiert hat, bekannt ist. Die Behörde will in diesem Vorgehen hingegen nichts Aussergewöhnliches sehen: Das EJPD stelle ein Laisser-passer aus, «wenn dies von den Einreisebehörden des betreffenden Landes gewünscht werde».
Abdillahi Hashi Abib, der sich als somalischer Parlamentarier gegen die Ausschaffungen wehrt, vermutet, dass die somalischen Behörden ohne die Ausstellung von Reisepapieren die Ausschaffungen verdeckt halten könnten. «Auch im Fall von geheimen Ausschaffungen aus Schweden und Finnland stellten die dortigen Polizeien und nicht Somalia Reisezertifikate für die Betroffenen aus», sagt er. Abib sagt, seit Dezember seien vier Sonderflüge aus Schweden in Somalia gelandet, über die das Parlament nie informiert worden sei. Im Gegenzug habe Schweden den somalischen Behörden zwölf Millionen US-Dollar Entwicklungshilfe für fragwürdige Projekte mit wohlklingenden Namen wie «Establish Performance Manager» und «Enhance Leadership» zur Verfügung gestellt. Abib, der Einsicht in die betreffenden Verträge hat und die tatsächliche Existenz dieser Projekte bestreitet, erhebt Vorwürfe der Korruption – die die somalischen Behörden dementieren.
Im Fall von Abdu Farah lässt auch das Zürcher Migrationsamt nicht locker: Immer wieder hakt es für die Durchführung eines Sonderflugs beim SEM nach. Laut den Akten schlug die Behörde zuletzt gar vor, einen Sonderflug über Algerien zu organisieren oder auf dem Linienflug ein Sondersetting zu erwirken, bei dem Farahs Widerstand zwecklos wäre.
In der Schweiz sind aktuell 61 Somalier:innen von einer Ausschaffung bedroht. Doch Farahs Fall könnte noch weitere Folgen haben: Wenn es bei Somalia möglich ist, ohne ein Laisser-passer des Herkunftsstaats auszuschaffen, könnte das auch die Ausschaffungsträume der Schweiz für Eritrea vorantreiben. Auch diese Pläne, die mindestens 230 illegalisierte Personen betreffen würden, scheitern heute an der Beschaffung der nötigen Papiere. Liaison Officer Gisela Schluep ist für die Ausschaffungen in beide Länder verantwortlich. Darüber sprechen möchte sie mit der WOZ nicht – und verweist bloss auf die Medienstelle.