Ein Traum der Welt: Radio magnifique
Annette Hug sucht den Genuss
Das Radio hat in den vergangenen Jahren enorm gewonnen. Seit man Sendungen nicht mehr genau dann hören muss, wenn sie ausgestrahlt werden, spricht in schlaflosen Stunden Hélène Cixous aus der Boombox. Die Stimme der französischen Philosophin und Schriftstellerin klingt mit über neunzig Jahren noch so kräftig und warm, als seien Jahrzehnte der Neugier darin aufgegangen. Immer häufiger findet sich tagsüber der perfekte Moment für ein Gedicht. Deutschlandfunk Kultur inszeniert zeitgenössische Lyrik aus Europa. Komponist:innen verbinden Zeilen in der Originalsprache, zum Beispiel Belarusisch, mit ihrer Übersetzung und elektronischer Musik, daraus wird eine Zeitkapsel von zehn Minuten. «Book of Songs» heisst die Reihe, in deren Trailer eine Redaktorin sagt: «Hauptsache, die Texte klingen.»
Dass Literatur im Radio sehr viel mehr sein kann als Reden über ein Buch, ist auf Radio SRF kaum zu erfahren. Selbst Stimmen von Autor:innen sind nur noch selten zu hören. Stattdessen sprechen zwei Redaktoren auf Schweizerdeutsch über Neuerscheinungen. «Meine Mutter fand das sehr witzig», sagt eine deutsche Autorin, deren Roman in diesem «Literaturclub: Zwei mit Buch» besprochen wurde. Witzig war es etwa zwei Minuten lang, dann wurde es langweilig, weil die Mutter ja nichts verstand. So wie die Westschweizer Übersetzerin, die sich bisher auf Radio SRF über Neuerscheinungen informiert hat. Seit SRF beschlossen hat, ein Lokalradio zu werden, ist das schwierig.
Wer sich im vergangenen Jahr gegen den Abbau der Literaturkritik im Schweizer Radio engagiert hat, wurde an seine Sterblichkeit erinnert. Als Publikum über vierzig stehe ich offenbar mit einem Bein im Grab und kann deshalb nicht mehr Zielgruppe sein. Es gelte, sich für die Jugend und neue Schichten von Hörer:innen zu öffnen.
Dabei ist das Bemühen zu spüren, eine elitäre Ausrichtung an sogenannten Bildungsbürger:innen abzulegen. Was ja nicht falsch ist, wenn damit gemeint ist, dass Kunstgenuss nicht als Abzeichen einer sich höher und besser dünkenden Schicht daherkommen darf. Aus der Programmgestaltung von Radio SRF spricht aber die Annahme, die neue Hörerin sei grundsätzlich beleidigt, wenn sie mit Namen oder Wörtern konfrontiert wird, die ihr nicht geläufig sind, und man müsse davon ausgehen, dass sie überhaupt nichts gelesen hat. Wer eine solche Annahme trifft, verachtet seine Hörer:innen.
Mir bleibt France Culture. Zum Beispiel «Les Chemins de la philosophie», acht Ausgaben à einer Stunde zu Roland Barthes’ «Fragmenten einer Sprache der Liebe». Jede Folge beginnt mit einer Collage aus Filmszenen und Chansons – «Je t’aime» in allen Tonlagen und Soundkulissen. Archivaufnahmen unterbrechen Gespräche und setzen sie neu in Gang. Roland Barthes scheint persönlich einzugreifen. Im Abspann wird deutlich: An einer solchen Sendung haben fünf Leute gearbeitet. Da ist jedes Detail fein gestaltet. Radio SRF kann sich das nicht (mehr) leisten. Aber auch das nächtliche Radioexil ist in Gefahr. Nach den Parlamentswahlen in Frankreich steht Präsident Emmanuel Macron mit der geplanten Rentenreform am Berg. Die vereinigte Linke kann sie wahrscheinlich blockieren. Er will jetzt auf ein anderes, angeblich sehr populäres Wahlversprechen setzen: die Abschaffung der Rundfunkgebühren.
Annette Hug ist eine Schweizer Autorin, die Hochdeutsch nicht als Fremdsprache betrachtet.