Französische Theorie: Differenziert euch!

Nr. 21 –

In «Schule des Südens» legt Onur Erdur die nordafrikanischen Wurzeln des postmodernen französischen Denkens frei. Damit liefert er gute Argumente für mehr Nuancen und Tiefe in der öffentlichen Debatte um Identitäten und Postkolonialität.

Hélène Cixous und Jacques Derrida
Zeug:innen von Rassismus gegen Araber:innen – und selbst Opfer von Antisemitismus: Die Philosoph:innen Hélène Cixous und Jacques Derrida wuchsen als Angehörige des algerischen Judentums auf.   Foto: Sophie Bassouls, Getty

Die Begriffe «Dekonstruktion», «Habitus» oder «Diskurs» kennt vermutlich auch, wer die komplizierten Bücher ihrer Urheber:innen nicht im Detail studiert hat. Auch die «écriture féminine», die vermeintlich weibliche Schreibweise, mag einigen bekannt vorkommen. Die Ideen, die Jacques Derrida, Pierre Bourdieu, Michel Foucault und Hélène Cixous zwischen 1950 und 1990 in Frankreich zu Papier brachten, sind in den intellektuellen Slang eingegangen.

Ohne die sogenannte French Theory hätte sich auch das aktuell so heiss debattierte postkoloniale Denken nicht entwickelt. So machte Derrida immer wieder auf innere Widersprüche kanonischer philosophischer Texte oder auf deren grundlegende Grenzziehungen (Geist/Körper, Mann/Frau etc.) aufmerksam. Dies bildete für Vordenker:innen der Postcolonial Studies wie Homi K. Bhabha die Grundlage ihrer Analysen der postkolonialen Bedingung: Ambivalenzen, die sich nationalen oder rassistischen Identitäten entziehen.

Der Berliner Historiker Onur Erdur interessiert sich in seiner Studie glücklicherweise weniger für die oftmals erschreckend platten Aneignungen oder Ablehnungen dieses Denkens in gegenwärtigen Kulturkriegen. In einem Schlusskapitel fragt er aber danach, wer wohl «Angst vor der Theorie» haben könnte. Kurze Antwort: Es seien diejenigen, «die mit den Theorie-Tribunalen ausschliesslich ihre politische Agenda verfolgen oder bereits das Denken aufgegeben haben». Das, so könnte man ergänzen, gilt aktuell für rechts wie leider auch für links.

Solidarität und Abenteuer

Mit dem Titel «Schule des Südens» meint Erdur den erstaunlichen Umstand, dass fast alle französischen Denker:innen des 20. Jahrhunderts eine ihr Werk und ihre Biografie prägende Beziehung zu Algerien, Marokko oder Tunesien hatten. Dies war im Einzelnen bereits bekannt, doch die Fülle und Vielfalt an Nordafrikabezügen ist doch überraschend. Das Buch stellt in prägnanten, auch einzeln als kleine Einführungen in das jeweilige Werk zu lesenden Essays sieben Meisterdenker und eine Meisterdenkerin vor: Pierre Bourdieu, Jean-François Lyotard, Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Derrida, Étienne Balibar, Jacques Rancière und Hélène Cixous.

Der spätere Starsoziologe Bourdieu leistete ab 1955 Militärdienst im von Frankreich kolonialisierten Algerien, also mitten im Krieg, und führte danach unter Lebensgefahr ethnografische Studien durch. Die erste Nennung des Habituskonzepts stammt aus einem Text, den Bourdieu über die traditionelle Gesellschaftsstruktur Algeriens schrieb. Seine Solidarität mit der algerischen Unabhängigkeit ging allerdings nicht so weit wie diejenige Lyotards, der in den frühen fünfziger Jahren im algerischen Constantine als Lehrer arbeitete und später als klandestiner Helfer für den französischen Ableger des algerischen Front de Libération Nationale (FLN) tätig war.

Barthes und Foucault wiederum suchten in Nordafrika in den späten sechziger Jahren das unbeschwerte Abenteuer. Während Barthes mehrmals Marokko bereiste, richtete sich Foucault über mehrere Jahre im tunesischen High-End-Ferienort Sidi Bou Saïd ein. Beide waren kurz an lokalen Universitäten tätig, in Rabat respektive Tunis, doch ihre traditionellen Vorstellungen von französischer Literatur und westlicher Philosophie entsprachen nicht den Bedürfnissen der politisch bewegten Student:innen, und so zogen sie sich entnervt zurück. Auch in ihren Schriften reflektierten sie die postkoloniale Situation kaum.

Dieses Schweigen ist merkwürdig. Denn Barthes wurde ja gerade mit der Dekonstruktion der in Frankreich so wirkmächtigen (auch kolonialen) «Mythen des Alltags» berühmt, und Foucault kam zu Prominenz, indem er die Funktionsweisen der Macht in Institutionen oder bei der Produktion von Wissen beschrieb. In Nordafrika schienen jedoch beide ihre analytische Brille abzulegen und ausschliesslich das damals liberale Klima für Homosexuelle und die Verfügbarkeit von Drogen zu geniessen.

Barthes posthum publizierte Tagebücher zeigen, wie der finanziell potente französische Intellektuelle obsessiv junge marokkanische Männer suchte und sich beim Sex einem ungehemmten Exotismus hingab. Erdur differenziert die empörte postkoloniale Kritik an diesem Verhalten, indem er auf einen von Barthes selbst formulierten Widerspruch aufmerksam macht: Der Mythologe versuche zwar, «so gut er kann», aus dem Widerspruch herauszukommen, «aber letztlich bleibt auch er ein Gefangener der ihn umgebenden Gesellschaft und Mythenwelt».

Algériance und Nostalgérie

Die beiden vielleicht bedenkenswertesten Kapitel des Buchs sind diejenigen zu Derrida und Cixous. Geboren und aufgewachsen als Angehörige des algerischen Judentums, gehörten sie weder zu den Kolonisator:innen noch zu den Kolonialisierten. Sie waren Zeug:innen des krassen Rassismus gegen die arabischen Bewohner:innen des Landes, erlebten aber auch den gegen sie selbst gerichteten Antisemitismus. Derrida (der damals noch den Vornamen Jackie trug) wurde als Jude während des Vichy-Regimes vom Gymnasium ausgeschlossen. Cixous erlebte als Kind den Ausschluss ihres Vaters, eines Militärarzts, aus der französischen Armee.

Cixous sprach von Anfang an offen über ihre «Algériance» – ein von ihr erfundenes Kofferwort aus «Algérie» und «allégeance» (deutsch: Treue) – als Inbegriff eines komplexen Verhältnisses von Angehörigkeit und Fremdheit. Derrida dagegen thematisierte seine «Nostalgérie», wie er sich ausdrückte, erst spät. Derrida war international zum Inbegriff eines französischen Intellektuellen geworden, doch war er eben nicht nur ein Denker des Marginalen, sondern auch einer, der geografisch und kulturell von den Rändern herkam. Sein endloses sprachliches Umkreisen von Paradoxien, sein Beharren auf den inneren Widersprüchen jeder Identifikation, seine Ablehnung von festen Zuordnungen und Kategorien speisten sich auch aus den spezifischen, oftmals traumatischen Erfahrungen eines algerisch-jüdischen Autors.

Im Licht solcher Erfahrungen, die Erdur anekdotisch beschreibt, aber immer sehr vorsichtig deutet, könnte das Buch auch den Titel «Schule der Ambivalenz» tragen. Dabei wird die massive Gewalt des Kolonialismus nicht ausgeblendet. In den Kapiteln zu Balibar und Rancière (der in Algerien geboren wurde) kommt Erdur auf die Ereignisse vom 17. Oktober 1961 in Paris zu sprechen, als etwa 12 000 algerische Demonstrierende verhaftet und tagelang festgehalten wurden. Etwa 200 Menschen wurden von den Polizisten erschossen, erschlagen oder in der Seine ertränkt. Wie Erdur ausführt, war dieses lange tabuisierte Staatsverbrechen für den jungen Rancière ein versteckter Impuls für seine späteren Arbeiten zu Rassismus.

Entgegen einem Grossteil der (US-amerikanischen) Identitätspolitik, die über die Anerkennung von partiellen Identitäten Gerechtigkeit herstellen will, hält Rancière jedoch bis heute am (französischen) Universalismus fest und sieht die politische Subjektivierung gerade in einem Moment der «Desidentifizierung». Damit verbunden ist die Warnung, dass eine Theorie, die auf feste und ihr vorausgehende Identitäten setzt, ihre kritische Dimension letztlich einbüsse.

Zügig, pointiert – und fast zu glatt

Erdur zeigt in seinem Buch immer wieder, wie sich die «kolonialen Wurzeln» in den späteren theoretischen Wipfeln zeigen. Doch oft sind diese Verbindungen mehr korrelativer als kausaler Art, die Zusammenhänge zwischen Kontext und philosophischem Denken bleiben unklar (worauf Erdur selbst hinweist). Dass es diese koloniale Dimension gibt, kann nach diesem Buch allerdings nicht mehr ignoriert werden.

«Schule des Südens» hebt sich von seinem Gegenstand – den verspielten, manchmal prätentiösen und fast immer schwer lesbaren Texten der französischen Postmoderne – durch eine zügige und pointierte Schreibweise ab. Dieser populäre Stil erscheint stellenweise fast zu glatt. Dabei ist ein Hauptanliegen der behandelten Autor:innen doch gerade das Herausfordern eingefahrener Kategorien durch sprachliche Irritationen. Dennoch macht Erdurs Buch beste Werbung für eine philosophische Qualität, die in den verbissenen Debatten um Identität und Postkolonialität vergessen zu gehen droht; und ohne die jede Theorie sinnlos wäre, weil sie ansonsten auch die von ihr beschriebenen Phänomene auf Schemen reduzieren würde: Differenziertheit.

Buchcover von «Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie»
Onur Erdur: «Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie». Verlag Matthes und Seitz. Berlin 2024. 335 Seiten. 42 Franken.

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Kommentare

Kommentar von Martin_Conti

So., 26.05.2024 - 13:22

Intellektuelle Juden in Algérie