Agrarökologie im Senegal: Für die kleinbäuerliche Revolution
Gegen multinationale Agrochemiekonzerne und die drohende Klimakatastrophe: wie eine Graswurzelbewegung im Senegal unaufhörlich für eine nachhaltige Landwirtschaft kämpft.
Socé Bâ läuft über ein verwuchertes Feld, auf dem bodennah kleine Tomaten wachsen. Ab und an pflückt der 22-Jährige eine reife Frucht oder zieht eine Wurzel hervor, aus der er grüne Erdnüsse schält. Er erzählt von Bienen und Schmetterlingen und von den Bohnen, die dem Boden Stickstoff spenden und ihn so natürlich düngen. «Der Boden, das ist unsere Zukunft», sagt Socé Bâ.
Die vier Hektaren üppig bewachsene Felder und Gärten gehören zum Hof «Ferme des 4 chemins» am Rand von Toubab Dialao, einem kleinen Dorf an der Atlantikküste des Senegal, rund siebzig Kilometer südlich der Hauptstadt Dakar. Hier wird eine agrarökologische Alternative erprobt – eine kleinbäuerliche Revolution von unten gegen die zunehmend prekären Verhältnisse in der agrochemisch geprägten Landwirtschaft.
Entgegen den Verlautbarungen traut die Regierung der «Transition» nicht recht.
Socé Bâs Vater gründete die «Ferme des 4 chemins». Zusammen mit fünf Angestellten und einigen Freiwilligen unterhalten die beiden über 50 verschiedene Fruchtbäume und bauen 25 Gemüsesorten an. Die Böden werden mit natürlichem Dünger aus Kompost und Gülle genährt. Zudem betreibt die Farm eine Samenbank mit alten Sorten, veranstaltet monatlich einen Biomarkt und bildet in mehrwöchigen Kursen Bäuerinnen, Forscher und Mitarbeiter:innen von NGOs aus.
In der Gegend von Toubab Dialao leben die meisten Einwohner:innen vom Fischfang. Doch das wird immer schwieriger, die Fischerträge gehen kontinuierlich zurück – auch weil die Küste von chinesischen Hochseefischer:innen leergefischt wird. Die Jugendlichen wandern nach Dakar ab – oder sie versuchen, auf dem Seeweg nach Europa zu flüchten. Wie zwei Freunde von ihm, erzählt Socé Bâ, die die Überfahrt nicht überlebt haben.
Das Herz der Bewegung
Die Anfänge der Agrarökologie im Senegal reichen bis zur Wirtschaftskrise in den siebziger Jahren zurück, als die Erdnussproduktion, die zuvor durch die Kolonialmacht Frankreich stark gefördert worden war, kollabierte. Hinzu kam eine verheerende Dürre, die die Kleinbäuer:innen in die Armut stürzte und eine Hungerkatastrophe auslöste. 1984 startete der Internationale Währungsfonds ein Strukturanpassungsprogramm; der Markt für Nahrungsmittel wurde liberalisiert, die Abhängigkeit von externen Geldgebern und Importen ausgebaut. Die Landwirtschaft wurde intensiviert und die Erträge durch den Einsatz von Düngern, Herbiziden und Pestiziden gesteigert. Allein von 2001 bis 2011 sind die Subventionen für Dünger auf beinahe das 500-Fache gestiegen – von 150 000 auf 72,6 Millionen US-Dollar pro Jahr.
Das Herz der agrarökologischen Graswurzelbewegung befindet sich im Zentrum Dakars nahe der grossen Moschee und der Märkte, wo Fisch, Reis, Gemüse und Stoffe verkauft werden. Im zweiten Stock des Eckbüros sitzen Mariam Sow und Jean-Michel Sene. Sow gehört zu den frühen Kämpferinnen für Umwelt und Gerechtigkeit im Senegal. Sie ist Generalsekretärin der lokalen NGO Enda Pronat, die seit 1982 agrarökologische Methoden entwickelt, Bäuer:innen fortbildet und sich in politische Debatten einbringt. Sene ist Projektleiter für das Thema Agrarökologie.
«Die Bauern suchen seit längerem nach Alternativen», sagt Sene, «weil sie merken, dass die konventionelle Landwirtschaft schlecht für ihre Gesundheit ist und die schwankenden Düngerpreise ein grosses wirtschaftliches Risiko darstellen.» Natürlich, Agrarökologie bedeute einen Mehraufwand, gesteht der Projektleiter ein. Die Vielfalt an Pflanzen, die jeweils unterschiedlich behandelt werden müssen, das Jäten von Hand, die Produktion von Kompost, Biodünger und Schutzmitteln auf pflanzlicher Basis – das alles kostet Zeit.
Aber die Behauptung von Bauernverbänden, Regierungsstellen und Agrochemiekonzernen, Agrarökologie sei wegen des Mehraufwands nicht rentabel, treffe nicht zu. «Man muss das längerfristig betrachten», sagt Sene. «Wenn ein Boden komplett ausgelaugt ist, gibt es zwei Möglichkeiten: Man steckt noch mehr Chemie hinein, um die Erträge kurzfristig zu halten – oder man regeneriert den Boden, was je nach Zustand Jahre dauern kann.» Danach werfe der Boden jedoch meist wieder mehr ab als zuvor. «Zudem sind die Bauern gesünder und haben keine Auslagen mehr für chemische Dünger und Pestizide.»
Roadtrip voller Hoffnung
Für die Bewegung gilt das Jahr 2015 als Wendepunkt, als der Senegal am panafrikanischen Agrarökologiegipfel der Uno-Welternährungsorganisation (FAO) zum Pilotstaat für eine «agrarökologische Transformation» in Westafrika deklariert wurde – nicht zuletzt wegen der zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen. Präsident Macky Sall, seit 2012 an der Macht, erkannte die Zeichen der Zeit und kündigte an, den landwirtschaftlichen Wandel zu priorisieren. 2019 erklärte er die Agrarökologie sogar zu einem der fünf Pfeiler des nationalen Entwicklungsplans für die Jahre 2019 bis 2024.
Motiviert durch die Zusagen der Regierung, organisierten sich die zivilgesellschaftlichen Initiativen nach dem FAO-Gipfel neu. Bäuerliche Organisationen, Bürgermeister:innen und Forschungsinstitute bildeten eine breite Koalition, die «Dynamik für eine agrarökologische Transition im Senegal» (Dytaes). Auch die NGO Enda Pronat ist Teil des Bündnisses.
2019 tourte eine Kerngruppe von Dytaes während vier Monaten quer durchs Land und besuchte 32 Gemeinden. Durch den trockenen Norden am Rand der Sahara, wo der Fluss Senegal die Grundlage für Mais- und Weizenanbau bietet; durch den tropischen Süden, wo vor allem Reis kultiviert wird; durch die Niayes, den 180 Kilometer langen fruchtbaren Streifen an der Küste, wo rund achtzig Prozent des senegalesischen Gemüses produziert werden; bis zur spärlich besiedelten östlichen Grenze zu Mauretanien und Mali.
Aus den Diskussionen und Workshops mit der Bevölkerung und den Entscheidungsträger:innen vor Ort fertigte Dytaes einen 98-seitigen Bericht an, eine Art Roadmap für die agrarökologische Wende im Senegal. Hierfür formulierte das Bündnis konkrete Vorschläge. Erstens: Schutz der Biodiversität, des Wassers und der natürlichen Ressourcen. Zweitens: resilientere Produktionssysteme und vereinfachter Zugang zu organischen Dünge- und Pflanzenschutzmitteln. Drittens: die Entwicklung von Wertschöpfungsketten und Märkten für agrarökologische Produkte. Und viertens: neue Gesetze und Investitionen, die die Transformation begünstigen.
Der Grundtenor des Berichts ist kons-truktiv, obwohl die Ausgangslage alarmierend ist: Die Bedingungen für Kleinbäuer:innen verschlechtern sich von Jahr zu Jahr. Sie wissen nicht mehr, wann sie säen sollen, denn oft beginnt die Hauptregenzeit aufgrund der klimatischen Veränderungen erst im September anstatt wie früher im Juni. Böden in Küstennähe werden durch den Meeresanstieg zunehmend versalzen. Im «Erdnussbecken» südlich von Dakar sind sie zudem wegen des hohen Dünger- und Pestizideinsatzes ausgelaugt und unfruchtbar.
In den Niayes spitzt sich eine Wasserkrise zu. Messungen der französischen Entwicklungsagentur GRET zeigen, dass die Wassernutzung an manchen Stellen die natürliche Regeneration des Grundwassers um 593 Prozent übersteigt. Vielerorts muss heute fünfzehn Meter tief gebohrt werden, um überhaupt noch an Wasser zu kommen. Genügend Geld für solche Bohrungen und leistungsstarke Pumpen haben oft nur grosse, kommerzielle Landwirtschaftsbetriebe – oder Konzerne, die in der Region Phosphat abbauen.
Investition in Zerstörung der Böden
Beim Human Development Index liegt der Senegal weit hinten, auf Platz 170 von 191. Trotz Erfolgen bei der Armutsreduktion im letzten Jahrzehnt ist eine unsichere Ernährungslage für Millionen von Menschen Alltag. Hinzu kommt, dass die Bevölkerung von heute 17,5 Millionen auf voraussichtlich 25 Millionen bis 2035 und auf 55 Millionen bis 2063 anwachsen wird. Laut den Autor:innen des Dytaes-Berichts würde die Agrarökologie die besten Voraussetzungen bieten, um all diese Menschen nicht nur ernähren, sondern auch beschäftigen zu können. Mehr als siebzig Prozent arbeiten heute schon zumindest teilweise in der Landwirtschaft. Sechzig Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt.
Doch entgegen den Verlautbarungen des Präsidenten traut die Regierung der «Transition» nicht recht, obschon die FAO, Dutzende NGOs und Forschungsinstitute, basierend auf den Erkenntnissen von dreissig Jahren, die Agrarökologie als beste Strategie für eine nachhaltige Entwicklung und Ernährung erachten. «Die Behörden setzen weiterhin auf Mechanisierung und konventionelle Methoden», sagt Projekteiter Jean-Michel Sene. Nach wie vor würden Millionen in die Subvention von Traktoren und chemischen Düngern gesteckt. Im Landwirtschaftsbudget für die Periode 2020/21 machten Subventionen für Dünger vierzig Prozent aus: vierzig Millionen US-Doller, die – teilt man Senes Ansicht – in die Zerstörung der Böden investiert wurden. Seit zwei Jahren werden zwar auch zehn Prozent der Subventionen für biologische Dünger eingesetzt – ein Erfolg, den die Zivilgesellschaft ihrem Druck auf die Politik zuschreibt.
Verbotenes Saatgut
Das Fundament der Agrarökologie sind vielfältiges Saatgut und die freie Verbreitung von traditionell angebauten Sorten. Doch der Verkauf von nicht geprüftem und nicht standardisiertem Saatgut ist im Senegal illegal. Nicht nur Dünger, sondern auch Saatgut wird vom Staat subventioniert. Rund fünfzig Prozent des Landwirtschaftsbudgets fliessen in die Subvention von Saatgut, meist hybride Sorten, die nicht reproduzierbar sind. Sie müssen für jede Aussaat neu gekauft werden und werden oft gleich als Paket mit Dünger und Pestiziden angeboten. Um solche Abhängigkeiten zu umgehen, organisieren Kleinbäuer:innen Samenbörsen, auf denen traditionelles Saatgut nicht verkauft, sondern getauscht wird. Eine regulatorische Grauzone.
Bald könnten die alten Sorten aber noch mehr unter Druck geraten: Am 3. Juni verabschiedete das Parlament in einem Dringlichkeitsverfahren die «loi biosécurité», die den Import, die Kommerzialisierung und die Distribution von gentechnisch veränderten Organismen erlaubt. «Wir wurden von der Regierung nie zum neuen Gesetz konsultiert», sagt Amadou Cheikh Kanouté, Präsident der NGO Cicodev, die sich für die Rechte von Konsument:innen einsetzt und die Dytaes-Koalition mitgründete. «Internationalen Konzernen werden dadurch die Türen für den Verkauf ihres Saatguts geöffnet, das zum neuen Standard werden könnte», sagt er. «Unsere traditionellen, klimatisch gut angepassten Sorten werden dadurch längerfristig verschwinden.»
Der Konsumentenschützer ist überzeugt, dass der Druck für diesen dringlichen Beschluss aus der Industrie kam: «Unserer Regierung ist stark von internationalen Geldgebern abhängig, die die Interessen der grossen Agrochemiekonzerne in ihren Ländern vertreten.» In der nationalen Landwirtschaftsstrategie (Pracas) lässt sich nachlesen, woher das Geld kommt – unter anderem von der Weltbank, der US-Behörde USAid, von der EU, von Kanada und der französischen Entwicklungsagentur AFD. «Wir müssen uns entscheiden», sagt Cheikh Kanouté. «Soll unsere Landwirtschaft vor allem dem globalen kapitalistischen System dienen, oder soll sie unsere Gesellschaft ernähren und sie resilienter, stärker und unabhängiger machen?»
Für dieses Ziel arbeitet Socé Bâ in Tou-bab Dialao auf dem Feld. Ausser sonntags, wenn er Freunde aus seiner Heimatstadt Mbour auf die «Ferme des 4 chemins» einlädt. Dann kocht er für sie oder holt im Garten frische Kräuter für den Tee. «Sie sollen sehen, dass es uns hier gut geht, dass wir unabhängig sind und dass die Landwirtschaft den Jungen eine Perspektive bieten kann.»