Erwachet!: Am schwarzen Loch
Michelle Steinbeck über Feuer und Hausgeister
Bei der Heimkehr sind die Wiesen am Rhein gelbtrocken wie im Süden, in meinem Kopf fällt ein Glas Mandelmilch um. Ich schliesse die Augen und träume mich zurück, in die brennenden Landschaften des Realitätsfluchtversuchs. Wüstenwind mit Brandgeruch, Zikaden; Dohlen kreisen im Rauch über den Flammen – was zieht die Vögel zur tödlichen Hitze?
«Endlich ändert sich alles»: extrem-vage Versprechen von Wahlplakaten an Palermos Wänden. Der Bürgermeister Leoluca Orlando, der von 1985 bis 2000 und von 2012 bis diesen Juni im Amt war, ist nicht mehr zur Wahl angetreten. Während er sich gegen die Mafia und für Geflüchtete einsetzte, übernimmt nun die Rechte, wohl bald auch national.
Aber erst mal Ferragosto; vor der gefürchteten Wahl im Herbst müssen noch einige Felder und Autos angezündet werden, um die Angst vor der drohenden Winterkälte auszuräuchern. Noch ein Versuch, diesmal jener, die Wärme des Sommers, des süssen Nichtstuns im Körper zu speichern: Der Maiskolbenverkäufer steht mit seinem Wägelchen im weichen Saum des Meeres, wedelt mit einer Zeitung über den Kohlen. Der aufsteigende Rauch legt sich über die Kulisse des brennenden Hügels, die Sonne sinkt am verschleierten Horizont; Geräusch von Ballspielen, dumpfes Knallen, Abprallen auf Haut, die Brandung.
Aus der Bar klingt noch der Sommerhit vom letzten Jahr, der Text geht übersetzt in etwa so: «Spiel ein bisschen Musik, aber leichte, weil ich hab auf nichts Lust – sehr leichte sogar. Mit einfachen Worten, fröhlich, aber nicht zu sehr. Spiel ein bisschen Musik, aber leichte, in der ohrenbetäubenden Stille … um nicht ins schwarze Loch zu fallen, das da direkt vor uns liegt.»
Wir schauen in die andere Richtung, konzentrieren uns auf die Lektüre sizilianischer Adelsromane, bis wir unverhofft selbst in einem landen: Das Agriturismo, das Ferien auf dem Bauernhof verspricht, entpuppt sich als riesiges Landgut mit Mandelplantagen; der Hof als altehrwürdige Villa einer ebensolchen Familie. Der Wind verwandelt das An- in ein Lebewesen: Er pfeift durch die verwaisten Zimmer, bauscht Vorhänge, rüttelt an Türen und Fenstern, stösst sie auf und schlägt sie zu. Bücher fliegen auf und blättern sich auf wie von Geisterhand von Anfang bis Schluss.
In Italien gebe es keine Gespenster, antwortet die Hausherrin, Baroness, glaube ich, auf meine Frage nach Hausgeistern. Wir sitzen beim gemeinsamen Znacht, und sie erklärt: zu viel Katholizismus hier, das sei doch eher was Angelsächsisches. Der englische Neffe pflichtet bei und erzählt von Ausgrabungen in der Nähe von Cambridge, wo geköpfte Skelette aus römischer Zeit gefunden worden seien, wahrscheinlich von Sklav:innen. Deren Schädel steckten zwischen ihren Füssen – wohl eine Massnahme, um den Exekutierten eine rachevolle Rückkehr zu verunmöglichen: Es sei doch selbst einem Gespenst zu peinlich, ohne Kopf herumlaufen zu müssen.
Bevor ich einwenden kann, dass die Stadtheiligen von Zürich gerade durch ihren kopflosen Spaziergang Ruhm und Ehre erlangten, werden Involtini aufgetischt, eine Art Fleischvögel, die der Neffe als traditionelle Täuschung für die Gäste beschreibt: Durch die äussere Hülle von Kalbfleisch geben sie vor, etwas Edles zu sein, dabei sind sie mit billigen Resten gefüllt. Wir nicken freundlich und wenden uns den vegetarischen Speisen zu.
Michelle Steinbeck ist Autorin in Basel, ihr Geist noch in den Ferien.