Jean-Jacques Sempé (1932–2022): Störelemente im Alltag

Nr. 33 –

So sanft wie er konnte kaum einer spotten: Jean-Jacques Sempé, Schöpfer des «Kleinen Nick», war ein mit Stift und Feder bewehrter Moralist.

Sempé 1983 bei Dreharbeiten für eine Dokumentation auf dem Rasen eines Fussballstadion
Sein Werk lebt vom Missverhältnis zwischen Bild und Text. Sempé 1983 bei Dreharbeiten für eine Dokumentation. Foto: Jacques Prayer, Getty Images

Der Mittelweg ist meist billig und blechern. Doch in seltenen Fällen verdient er das Beiwort «golden». Als Erzähler hat Jean-Jacques Sempé zeitlebens die Extreme gemieden. In seinem Werk findet man weder himmelschreiende Gewalt noch abgrundtiefe Bosheit; selbst Sex taucht allenfalls in augenzwinkernd-burlesker Form auf. Sempés bekannteste Schöpfung ist in dieser Hinsicht emblematisch: «Le Petit Nicolas» (auf Deutsch: Der kleine Nick) spielt im Frankreich de Gaulles, eigentlich aber in einem putzig-pittoresk gezeichneten Gallien, durch den Blick des dreikäsehohen Erzählers in scheinbar unverrückbare Raster mit Koordinaten wie «Kinder» und «Erwachsene» oder «Schulstunde» und «Spielzeit» gebannt. Eine heile, gänzlich «normale» Welt, in der nie der kleinste Zweifel daran aufkommt, was gut und böse ist, was erlaubt und was verboten.

Der Witz dieser 222 Geschichten ist, dass sie die Elastizität des festgefügten Rahmens zu komischen Zwecken ausreizen. René Goscinny hat zu Sempés kongenialen Zeichnungen zwischen 1955 und 1964 Texte von oftmals mozartscher Schwerelosigkeit geschaffen. Da geraten das Weltbild der «Grossen» und die Anschauung, die die «Kleinen» von ihrem Mikrokosmos haben, auf Kollisionskurs. Knirschen Fremdkörper – ein schottischer Sprachschüler, ein entlaufener Hund – wie Sand im Getriebe der Erzählmaschine. Lassen unüberwindbare Hürden – das Verfassen eines Dankesbriefs, das Erlernen der Verkehrsregeln – die narrative Lokomotive entgleisen. Je standardisierter eine Kunstwelt, je luftdichter von der Realität abgeschlossen, desto kleiner das Störelement, dessen Funkenschlag das unter der Glasglocke akkumulierte Lachgas zum Explodieren bringt.

Kleine Abweichungen

«Le Petit Nicolas» bildet den Sockel von Sempés Weltruhm, ist im Kontext des Gesamtwerks aber untypisch. Denn neben Goscinny hat der Geschichtenzeichner nur noch mit zwei anderen illustren Autoren zusammengearbeitet: den Romanciers Patrick Modiano (1988 für «Catherine Certitude», auf Deutsch: «Catherine, die kleine Tänzerin») und Patrick Süskind (1991 für «Die Geschichte von Herrn Sommer»). Der Kern seines Œuvres, rund dreissig Alben, besteht aus Zeichnungen mit eigenen Texten. Diese Bände einem Genre zuzuordnen, ist nicht ganz einfach: Sempé betonte stets, er möge Comics nicht und mache auch keine. Doch bis auf gerahmte Panels lassen sich auch bei ihm – wenngleich nicht durchweg – die wichtigsten Elemente der «bande dessinée» finden, einschliesslich Sprechblasen. Neben bandfüllenden Erzählungen in Bild und Wort wie der Novelle über den Veloverkäufer Raoul Taburin (1995), der nicht Rad fahren kann, schuf Sempé auch Kurzgeschichten, bei denen die einzelnen Bilder durchnummeriert oder durch Pfeile verbunden sind.

Das eigentliche Herz seines Schaffens bilden freilich Zeichnungen, die für sich allein stehen. Viele von ihnen leben vom Missverhältnis zwischen Bild und Text – ein Kunstgriff, den der Band «Un Léger Décalage» (1977) bereits im Titel anführt. Eine «Kleine Abweichung», wie das Buch in der deutschen Übersetzung heisst, besteht da etwa zwischen der Zeichnung und dem Sprechtext eines mausgrauen Mittfünfzigers mit Brille und Halbglatze, der mit einer Femme fatale bricht: «Sie müssen sich mit dem Gedanken anfreunden, Irene, dass ich bloss eine Sternschnuppe in Ihrem Leben gewesen bin.»

Eingedampft auf Witzgehalt

Dieser Vertreter des farblosen französischen Mittelmasses – oder des goldenen gallischen Mittelwegs? – ist eine wiederkehrende Figur in Sempés Alben. Durch ihn signalisiert der Autor, dass sein sanfter Spott alle trifft – und damit niemanden im Besonderen. Überzeichnete Porträts von Zeitgenoss:innen, grafisch zugespitzte Kommentare zur Tagesaktualität waren seine Sache nicht. Sempé arbeitete für Zeitungen und Zeitschriften, von der populärsten wie «Paris Match» bis zur elitärsten wie «The New Yorker», aber er war weder Karikaturist noch Pressezeichner. Was der mit Stift und Feder bewehrte Moralist aufzuspiessen suchte, war die Permanenz des Allzumenschlichen im Wandel der Zeiten.

Hochmut, Selbstzweifel oder Schadenfreude dampfte er so im Kleinformat des Alltäglichen auf ihren Witzgehalt ein. Gern stellte Sempé seine Protagonist:innen in monumentale Interieurs oder überwältigende Stadtansichten, sodass man die Handlung – und ihre Träger:innen – regelrecht suchen muss. Zusammen mit dem klaren Strich, der im Lauf der Jahrzehnte jazziger wurde, ist die von Details wimmelnde Panoramaansicht ein Markenzeichen des Schöpfers. Dieser hatte schon zu Lebzeiten etwas Klassisches, eine Mischung aus Fassung, Verbindlichkeit und Vergangenheitsverhaftetheit, die ihn über wildere, «zeitgenössischere» Kolleg:innen stellte. Weder gab es Diskussionen über seinen künstlerischen Rang, noch wurde er je einer Schule oder Strömung zugeschrieben. Sempé war Sempé – ein Unikum. Das kleine Wunder dabei ist, dass er zwar meist den Mittelweg gewählt, aber kaum je Mittelmass hervorgebracht hat. Am 11. August, sechs Tage vor seinem 90. Geburtstag, ist der Autor von «Nichts ist einfach», gefolgt von «Alles wird komplizierter», im provenzalischen Draguignan gestorben.