David Weiss (1946–2012): Das Heitere und das Urdunkel

Nr. 19 –

Am 27. April ist der Künstler David Weiss in Zürich gestorben. Der Verleger, Autor und Schauspieler Patrick Frey erinnert sich an seinen Freund und an seine ersten Begegnungen mit dessen Werk.

So viele Erinnerungen. Es gibt ein paar wenige Menschen, ohne die mein Leben und mein Denken anders verlaufen wäre. David Weiss gehört zu ihnen, gehörte zu ihnen, muss ich jetzt sagen. Und was ich hier erzähle, ist natürlich nur ein Fragment dessen, was ihn ausmachte. Es war, glaube ich, 1978, als ich seine Arbeiten zum ersten Mal wahrnahm – es war, als ich ein kleinformatiges Künstlerbuch mit feinen Tuschzeichnungen in die Hände bekommen hatte, in dem es auf jeder Seite regnete, offiziell hiess es «up and down town», inoffiziell aber nur das «Regenbüchlein». 1975 war es bei Pablo Stähli herausgekommen.

Das Regenbüchlein ist eine gezeichnete Reise, die auf ganz eigene Weise die Netzhaut flimmern lässt, ein Trip durch die mit Autos verstopften Strassenfluchten von Downtown Los Angeles hinaus auf die Freeways, vorbei an Schaufenstern, Strassencafés und vollen Bars, seltsam kostümierten Passanten, Strassenbands oder Pärchen, die im Taxi knutschen. Der Regen fällt in filigranen diagonalen Tuschestrichen schwarz-weiss durch die Szenerien, alles spiegelt sich, verwischt sich, die Regenstriche verwirren die Sicht auf die virtuos skizzierten Konturen der Dinge bis fast zur Auflösung des figurativen Geschehens – ein absolutes Meisterwerk, zutiefst melancholisch und zugleich von bodenloser, psychedelischer Heiterkeit.

Ein filigraner Rest von Papierweiss

Der Autor nannte sich damals noch Dave Weiss, man wusste, er war viel auf Reisen gewesen, vor allem in den USA, war aber auch in Kuba und lebte Ende der siebziger Jahre in Los Angeles, New York war nicht so sein Ding, er empfand es als zu europäisch, wie ich später herausfand. Er war ein paar Jahre älter als ich, was ihn zum echten Achtundsechziger machte, er hatte in einer Kommune gelebt und kannte Timothy Leary. «Dave is a saint», soll Leary nach dieser Begegnung gesagt haben, aber das erfuhr ich erst kürzlich vom Filmemacher Iwan Schumacher.

Ich wusste, dass er bereits international ausgestellt und an der wichtigen Gruppenausstellung «Mentalität Zeichnung» von Jean-Christophe Ammann im Kunstmuseum Luzern teilgenommen hatte. Die Ausstellung hatte ich nicht gesehen, aber im Katalog war eine Tuschzeichnung, die mich tief beeindruckte: Nur in feinen weissen Konturstrichen im tiefschwarzen Grund angedeutet sitzt ein Mann mit Schirmmütze auf einem Hügel und schaut auf einen belebten Strand, wo Kinder in der Brandung mit einem Ball spielen, am Horizont ein fröhliches Segelschiffchen: «I wish that I had sailed the darkened seas». Auch hier diese einzigartige Balance zwischen Heiterkeit und tiefstem Weltschmerz – eine Farbreduktion, ganz ähnlich wie später im Werk von Fischli/Weiss bei der Serie der «Fotografias», wo die beiden Künstler die grelle Farbigkeit von Chilbimalereien in ein monochromes, dumpfes Braunschwarz abdunkelten.

Erst viel später, als ich vor dem Original stand, realisierte ich, dass diese Umkehrung auf radikale Weise mit dem Prozess des Zeichnens zu tun hatte, dass David nämlich nicht etwa mit weisser Deckfarbe auf schwarzen Grund gezeichnet hatte, sondern umgekehrt. Wie es sich für eine Zeichnung gehört, war das Weiss nur das Weiss des Papiers; David hatte sich mit dem Tuschpinsel vorsichtig an die – imaginären – Konturlinien herangetastet, hatte die Fläche mit Tusche bedeckt, bis nur noch ein filigraner Rest von Papierweiss übrig geblieben war – die Kunst. Das Licht der künstlerischen Wahrnehmung, das die Welt eben ganz anders beleuchtet, als man es sich von der Welt gewohnt ist. Und vor allem ganz anders, als man es sich von der Kunst am Ende der siebziger Jahre gewohnt war. Da zeichnete einer eine äusserst ephemere Lichtspur des Menschlich-Individuellen und war sich zugleich ihrer kollektiven Herkunft sehr bewusst.

Die Kunst, von der in Weiss’ frühen Zeichnungen die Rede ist, ist von Finsternis umfangen und besteht zugleich aus ihr, kommt aus dem Urdunkel der Zeiten, und ihr Leuchten ist aus Finsternis herausgearbeitet worden. Kunst ist, was aus der undurchdringlichen Dunkelheit unserer Existenz herausleuchtet, und Kunst vermag auch noch die trivialsten und lächerlichsten oder schlimmsten Ausformungen und Blüten dieser Existenz als etwas Erleuchtetes erscheinen zu lassen.

Zeichnen mit virtuoser Hand

Das war es, was mich von Anfang an bei David Weiss faszinierte: wie er das Schwerste mit dem ganz Leichten mischte, wie sein Zeichnen mit sehr virtuoser Hand das Alltäglichste und das Trivialste in traumhafte bis surreale Metamorphosen verwickelte und wie er dabei – ohne je pathetisch zu werden – das Entlegene und das Kosmische nie aus den Augen verlor. Zu den liebsten Motiven von David Weiss zählten Frauen und Blumen, die er, wie der Kinderbuchillustrator Ernst Kreidolf, mit Gesichtern animierte und personifizierte. Aber selbst seine wunderschönen Frauengestalten arbeitete er oft aus der undurchdringlichen Schwärze heraus, und selbst bei den Blumengesichtern oder bei seinen spektakulären Metamorphosen blitzt dieser manichäische Gestus auf, der so meisterhaft vom archetypischen Ringen zwischen Licht und Finsternis zu erzählen weiss. Und davon, dass es eine Sehnsucht gibt, sich dem europäischen Künstlerbewusstsein, das das Individuelle so sehr in den Vordergrund stellt, zu entziehen.

Ich denke, das war es, was diese künstlerisch höchst fruchtbare Mischung ergab: David Weiss war weise und gelassen bis zur zen-buddhistischen Heiterkeit, und zugleich war da diese Energie eines protestantisch unterfütterten, manichäischen Furors. Er war Moralist, bewunderte Wilhelm Busch und sammelte chinesische Tuschezeichnungen und Suisekis, diese von der Natur gestalteten Gelehrtensteine, die in ihrem Ausdruck an ein Stück Landschaft erinnern sollen, an ein Tier oder eine Skulptur. 1997 in Münster liessen Fischli/Weiss einen Garten anlegen, der sich in nichts von einem Bauerngarten mit Gemüse und Blumen unterschied. 2012 werden sie in einer abgelegenen Landschaft in Norwegen und im Hyde Park in London zwei riesige Findlinge gerade so zufällig aufeinanderlegen lassen, dass der Eindruck entsteht, es handle sich um eine natürliche Formation.

Blicke auf ein Weltganzes

Persönlich lernte ich David Weiss erst ein paar Jahre nach seinen Zeichnungen kennen, Anfang März 1981. Kurz bevor in Zürich die Jugendbewegung mit der gewaltsamen Räumung des Autonomen Jugendzentrums eine letzte Eskalation erlebte, kuratierte ich im Kunstmuseum Winterthur die Ausstellung «Bilder», die den Aufbruch der jüngeren Schweizer Kunst dokumentieren sollte.

Im Sommer zuvor, in Bice Curigers Ausstellung «Saus und Braus», hatten Peter Fischli und David Weiss bereits ihre erste gemeinsame Arbeit gezeigt, die legendäre «Wurstserie». Im selben Jahr drehten sie in Los Angeles und Zürich «Der geringste Widerstand», den ersten Ratte-und-Bär-Film, der an der Vernissage von «Bilder» Premiere hatte. In Winterthur wollten sie ein letztes Mal getrennte Arbeiten zeigen, und es ist im Rückblick offensichtlich, dass ihre beiden grossformatigen Rauminstallationen für die Grundthemen der weiteren Zusammenarbeit etwas Programmatisches hatten.

In beiden Arbeiten waren dreidimensionale Modellwelten zu sehen, Blicke auf ein Weltganzes, auf Mikro- und Makrokosmos. Während Peter Fischli mithilfe lebender Mäuse und Goldfische die Welt, in der wir leben, wie eine animierte Fabel nacherzählte, warf David Weiss seinen Blick auf das Planetarische, auf das Raum-Zeit-Universum, in dem wir leben: «Auf dem Fussboden liegen riesige weisse Monde, denen David Weiss selbst, beziehungsweise die einer Fata Morgana gleichende Erscheinung seines Hologramms einen ‹Vortrag› hält. Rundherum an drei Wänden entrollt sich die Völkerwanderung unter schwarzem Sternenhimmel mit einem Mond im Zeichen des Hasen als eine dramatische zeichnerische Darstellung jeder grossen geschichtlichen Menschen-Bewegung, deren zeitliche und räumliche Dimension hier in Bezug tritt zur winzigen ‹lebendigen› Gestik des holographierten Menschen und zu der unendlich grossen Bewegung der Planeten», so stand es damals im Pressetext. Ein Jahr später entstand «Plötzlich diese Übersicht», wo sich die Weltsichten der beiden in Form von 250 ungebrannten Lehmplastiken kongenial vereinigten.

«Aber noch bin ich am Baden»

Für den Katalog wünschte David keinen Text über sich, als ebenso brillanter Schreiber wie Zeichner faxte er eine Reportage über einen Nachmittag und einen Abend in Los Angeles.

Er erzählt darin vom Bodysurfing, von der «Verschmelzung des Individuums mit dem Rest der Welt», von der «Auflösung des Ichs bei gleichzeitiger Wahrnehmung des Kosmos», und fährt dann mit dem Gestus des Zweiflers fort: «Locker mit grosser Gelassenheit kommen solche Wörter daher, vielleicht sorgt die Geographie dafür, das Gefühl, am Ende der Welt zu sein, die leicht ins intergalaktische, megalomane gehende Stimmung, das Geheimnis der nahen Datumsgrenze. Aber noch bin ich am Baden, mitten im gepflegten Nachmittag, den ich, zur Steigerung der Sinneslust, mit offenem Bewusstsein zu geniessen versuche, mit innerlich gespitzten Ohren, wie Anubis, der schwarze Hund, dessen Kopf die Wachsamkeit persönlich ist, während hinten der lange Schwanz entspannt über den Sockel ins Urdunkel fällt. Wobei ich natürlich nur ein kleiner Fisch bin, und womöglich auf dem falschen Weg.»

Angesichts der Fischli/Weiss-Geschichte scheint der Zweifel unbegründet, aber er ist metaphysisch, nicht kokett.

Die Frage, ob der melancholische Skeptiker David Weiss ihn heute nicht wieder genauso formulieren würde, wird für immer offen bleiben.