Durch den Monat mit Hannes Rudolph (Teil 4): Wie kam es zu diesem Wendepunkt?
Wie Hannes Rudolph bezüglich gesellschaftlicher Diskriminierung die Augen aufgingen. Warum viele trans Personen nicht nur die soziale Rolle wechseln. Und wie er selbst merkte, dass er ein Mann ist.
WOZ: Herr Rudolph, warum tun sich viele Leute so schwer mit Respekt für Minderheiten?
Hannes Rudolph: Ich kann das vielleicht aus meiner persönlichen Erfahrung beantworten. Ich bin in der DDR relativ privilegiert aufgewachsen und hatte, als Mädchen gelabelt, lange das Gefühl: Diskriminierung, das gibt es doch nicht.
Hatte das mit der gleichstellungspolitisch progressiveren DDR zu tun?
Ja, vordergründig herrschte Gleichberechtigung. Tatsächlich übten Frauen alle Berufe aus, und es gab staatlich finanzierte Kinderbetreuung. Was im Argen lag, haben viele ausgeblendet, ich auch. Als ich als Teil der trans Community bemerkt habe, wie stark die Art, wie die Welt organisiert ist, trans Personen in ihrer Existenz quasi ausradiert, sind mir die Augen aufgegangen.
Was haben Sie gesehen?
Dass die Expertise, die wir als Community haben, nicht ernst genommen wird. Dass wir die Dinge immer wieder erklären, aber ignoriert werden – und Menschen, die nicht verstehen, was Trans-Sein überhaupt ist, sich dazu im Feuilleton auslassen dürfen. Es gibt ja so ein journalistisches Genre: Unser Reporter hat einen Tag im Rollstuhl verbracht oder einen Monat vom Hartz-IV-Satz gelebt. Auch da frage ich mich: Warum gibt man der Erfahrung einer Person, die das einen Tag probiert, mehr Gewicht als Menschen, deren Leben das ist?
Warum?
Privilegierte Menschen halten sich für objektiv und nehmen marginalisierte Stimmen nicht ernst. Von diesem Denken ist der Diskurs geprägt. Alice Schwarzer hat ein Buch zum Trans-Thema veröffentlicht: Wer nur ein wenig davon versteht, sieht sofort, dass sie nicht versteht, was Trans-Sein bedeutet. Sie wirft Geschlechtsidentität und Genderstereotype in einen Topf. Diesen Irrtum, Menschen «würden trans», weil sie als Mann lieber mal weich sein wollen oder als Frau Mühe mit dem Patriarchat haben, breitet sie ein Buch lang aus.
In Deutschland wird ja gerade debattiert, ob es für trans Menschen endlich eine einfache Möglichkeit geben soll, den Geschlechtseintrag zu ändern. Sofort wird davor gewarnt, dass Menschen sich unüberlegt operieren lassen. Wem passiert denn was, wenn jemand den Geschlechtseintrag ändert – ausser unserer Geschlechterordnung? Und was hat das mit medizinischen Massnahmen zu tun? Nichts! Trotzdem werden diese Themen immer vermischt.
Kann man nicht auch als Mann seine weibliche Seite ausleben?
Ja, natürlich. Nur, wenn jemand sagt: «Ich habe eine weibliche Seite», meint er nicht die Geschlechtsidentität. Ich kann mich als Mann identifizieren und mich trotzdem nicht für Fussball interessieren. Identität ist von all dem separierbar, sie ist so etwas wie eine innere Gewissheit: Das ist mein Geschlecht.
Und was heisst das für trans Personen?
Da gibt es solche, die das Gefühl haben, dass ihre Identität nicht zum Körper passt, es aber lassen, wie es ist. Bei vielen fühlt sich der Körper aber falsch und fremd an, und sie suchen entsprechend medizinische Behandlung. Viele sagen auch: Ich möchte unbedingt die soziale Rolle wechseln – und dann auch als das Geschlecht erkannt werden, als das ich mich fühle. Das ist in unserer Gesellschaft nun mal einfacher, wenn man medizinische Massnahmen ergreift. Ich selber musste die Frage, ob ich ein Mann bin, jahrelang mit jeder Person diskutieren, gegenüber der ich auf der richtigen Anrede bestand. Nach zwei Jahren Testosteron musste ich diese Diskussion nie wieder führen.
Wann spürten Sie, dass Sie ein Mann sind?
Ich hatte eine lange Phase, in der ich rausbekommen musste, was genau los ist. Ich war ein glückliches Kind. Zwar habe ich gedacht, ich würde lieber ein Junge sein, aber «geht halt nicht». In der Pubertät habe ich gedacht: Um Gottes willen, was passiert denn da mit mir und meinem Körper – aber da muss ich mich halt irgendwie dran gewöhnen. Mit neunzehn dachte ich, ich hätte mich dran gewöhnt. Und mit Ende zwanzig traf mich die Erkenntnis, dass ich ein Mann bin, dennoch wie ein Blitzschlag.
Wie kam es zu diesem Wendepunkt?
Als ich erfuhr, dass es trans Männer gibt, ist diese Sehnsucht, ein Junge zu sein, wieder aufgewacht. Dann habe ich mich durch alle meine Vorurteile durchgegraben, bis ich imstande war zu sagen: Ich entspreche zwar nicht jedem männlichen Klischee, habe bestimmte Wünsche nicht – aber wenn mich jemand fragt, ob ich mich als Mann identifiziere, fühlt sich das sehr passend an.
Mit welcher Konsequenz?
Zuerst habe ich das sozial geändert, also etwa meinen Namen. Jahre später begann ich Hormone zu nehmen, weil ich es leid war, mich immer erklären zu müssen. Für mich war das kein grosses Leiden. Es war eher so, dass ich gewittert habe, dass ich durch die Transition noch eine ganz andere Lebensqualität zu gewinnen habe. Hätte ich in den 1920er Jahren gelebt, vor den heutigen Möglichkeiten, hätte ich womöglich auch recht gut so weiterleben können. Aber ich hätte definitiv etwas verpasst.
Hannes Rudolph (45) war bis Mai Leiter der Fachstelle für trans Menschen im Checkpoint Zürich und ist Geschäftsführer der HAZ – Queer Zürich, die heuer ihren 50. Geburtstag feiert. Nächste Woche: Was Rudolph über Geschlechterrollen bei Kindern denkt.