Die wandelnden Skulpturen von Kinshasa: «Sie nennen uns verhext»

Nr. 40 –

Puppen, Radioteile, Spritzen, Elektrokabel: Aus Gegenständen, die sie auf Müllhalden finden, schaffen Künstler:innen surreale Kostüme und machen damit auf Missstände in der kongolesischen Metropole aufmerksam.

Figuren in Menschenform – Patrick Kitete: Figur aus Flipflops; Kabaka: «Immondice bala bala» aus Plastiksäcken; Etaba: «Wake up» aus Zigarettenschachteln
Figuren in Menschenform – Patrick Kitete: Figur aus Flipflops; Kabaka: «Immondice bala bala» aus Plastiksäcken; Etaba: «Wake up» aus Zigarettenschachteln.

Als Kind wurde Shaka Fumu im Juni 2000 in seiner Heimatstadt Kisangani Zeuge der Gräueltaten während des sechstägigen Krieges zwischen ugandischen und ruandischen Streitkräften. «Es war nicht einmal unser Krieg, sondern ein Krieg zwischen zwei fremden Armeen», sagt er. Die Kämpfe führten in der Stadt im Norden der Demokratischen Republik Kongo zu unzähligen Verletzten und mehr als tausend Toten. «Auch ich habe Verwandte verloren», sagt Fumu, der heute den Künstlernamen Kabaka trägt.

Irritation auf der Strasse

Der 33-Jährige gehört zu einer kleinen, aber wachsenden Gruppe multidisziplinärer Künstler:innen in Kinshasa, die kunstvolle Kostüme aus Haushaltsabfällen herstellen, die sie auf Müllhalden oder auf den Strassen der Hauptstadt gefunden haben. «Matshozi 6 Jours» (6 Tage Tränen) zum Beispiel ist ein Outfit, das Kabaka aus weggeworfenen Puppen komponierte, um die Opfer des Sechstagekriegs zu ehren. «Jedes Mal, wenn ich eine kaputte Puppe herumliegen sehe, erinnert mich das an das, was in Kisangani passiert ist. Sie symbolisieren die Opfer, die ich mit eigenen Augen gesehen habe», sagt Kabaka. Ein ganzes Jahr habe es gedauert, bis er alle Puppen für das Kostüm gesammelt gehabt habe. «Als ich es zum ersten Mal trug, war es eine schwere Last. Nicht wegen des Gewichts, sondern wegen der vielen Opfer.» Mit seiner Arbeit möchte Kabaka aber auch auf die dringende Notwendigkeit des Recyclings in der mit Müll und Plastik übersäten Millionenmetropole Kinshasa aufmerksam machen.

Falonne Mambu demonstriert als «Femme Électrique» gegen die bei Stromausfällen besonders häufig verübte sexuelle Gewalt.

Kabaka und weitere der inzwischen über zwanzig Künstler:innen, die aus Abfällen surreale Kostüme schaffen und so Statements zu gesellschaftlichen Missständen in der Megacity abgeben, haben sich in verschiedenen Kollektiven zusammengetan. Regelmässig sieht man sie auch an Kunstfestivals. So etwa am Kin Act, das jeweils in mehreren Stadtteilen Kinshasas stattfindet, zuletzt im August. Gegründet hat es 2015 Ekete, der als einer der ersten Performer in Kostümen aus Abfällen durch die Stadt streifte – unter anderem als «Homme Canette» in einem Outfit aus Getränkedosen.

Pape Noir: «Megot» aus Zigarettenfiltern.
Pape Noir: «Megot» aus Zigarettenfiltern.
Kabaka: «Covid-19» aus Tuben.
Kabaka: «Covid-19» aus Tuben.
Sarah Ndele: «Pauvre de moi» aus Plastikbehältern.
Sarah Ndele: «Pauvre de moi» aus Plastikbehältern.
Kabaka: Figur aus Deckeln von Getränkeflaschen.
Kabaka: Figur aus Deckeln von Getränkeflaschen.
Flory Sinanduku: Figur aus Spritzen.
Flory Sinanduku: Figur aus Spritzen.
Hendrick: Figur aus Tonbandkassetten.
Hendrick: Figur aus Tonbandkassetten.

Neben Strassenaufführungen organisieren die Kollektive auch Workshops, in denen sie Kinder an Kunstformen wie Theater, Bildhauerei, Malerei oder Poesie heranführen. Zeitgenössische Kunst hat in Kinshasa noch immer einen schweren Stand. So werden die Kostümperformer:innen trotz ihres spektakulären Auftritts von den Passant:innen weitgehend ignoriert – oder als Sonderlinge abgetan. Eine Erfahrung, die auch Kabaka macht, wenn er in seiner Puppenkomposition durch die Strassen geht: «Ich bin ein Mann mit Rastafrisur, der Müll sammelt – die meisten Leute in Kinshasa finden das suspekt, verrückt oder gar verhext. Die Leute hier interessieren sich mehr für Musik, Ambiente und Party; plastische Kunst ist in ihren Augen eher etwas für seltsame Vögel», sagt er, angesprochen auf Erfahrungen, die er bei seinen Auftritten auf der Strasse macht.

Auf seinen Touren durch die Coiffeursalons zum Beispiel habe er alle Mühe der Welt gehabt, genug Material für sein Kostüm aus menschlichen Haaren zusammenzukriegen: «Viele Kund:innen weigerten sich, ihr frisch geschnittenes Haar herzugeben. Sie dachten, ich könnte es gegen sie verwenden, um sie zu verzaubern!» Weit mehr Anerkennung erfährt er, wenn er als Musiker unterwegs ist. Dabei, so betont Kabaka, könnten die wandelnden Skulpturen durchaus auch dazu beitragen, die Menschen in der Hauptstadt für das Thema Recycling zu sensibilisieren, was dringend nötig wäre. Doch das Interesse der lokalen Verwaltung scheint sich noch immer in Grenzen zu halten.

Mit seinen je nach Schätzung zwölf bis fünfzehn Millionen Einwohner:innen produziert Kinshasa täglich etwa 7000 Tonnen Abfall, davon 1500 Tonnen Kunststoff. Die Plastikverschmutzung ist denn auch mit ein Grund dafür, dass ganze Stadtteile nach Regenschauern zunehmend überschwemmt werden, weil das Wasser durch die verstopften Bäche und Abwasserkanäle nicht abfliessen kann. Da sich die städtischen Behörden bislang kaum um das Problem kümmern, nehmen sich immer mehr private Initiativen und kleine NGOs seiner an. Die Kunststoffrecyclingbranche in Kinshasa könnte eine blühende Zukunft haben.

Kunst gegen Fake News

Auch die Gesundheitsversorgung liegt im Argen. Darauf macht Flory Sinanduku mit seinem Kostüm aus Spritzen und aufmerksam. Der Gründer des Künstler:innen­kollektivs Farata tut das aus direkter Betroffenheit: Die schlechte und teure Gesundheitsversorgung sei der Grund dafür, dass er seine Mutter schon früh verloren habe.

Kalenga Kabangu Jared wiederum gehört zur jüngeren Generation der Kostümperformer:innen. Der Student an der Kinshasa Art Academy, der sich mit dem Malen von Porträts frisch verheirateter Paare etwas dazuverdient, zieht regelmässig als «Robot Annonce» durch die Strassen. Mit dem Outfit aus kaputten Radioteilen will er auf Fake News aufmerksam machen: «Die Leute erhalten so viele Falschinformationen. Dagegen möchte ich ankämpfen.»

Falonne Mambu liess sich für ihr Kostüm von der Zeit inspirieren, in der sie obdachlos auf den Strassen Kinshasas gelebt hat. Eines Tages habe sie die Kunst entdeckt – und damit die Möglichkeit, ihren Erfahrungen Ausdruck zu verleihen: «Abends suchte ich mir auf einem benachbarten Markt einen Schlafplatz, morgens wusste ich einen Ort, wo ich mich waschen konnte – und dann hing ich den ganzen Tag in der Kunstakademie herum», erzählt die Dreissigjährige.

Etabe: «White Horse» aus Plastickbechern.
Etabe: «White Horse» aus Plastickbechern.
Kabaka: «Matshozi 6 Jours» aus Puppen.
Kabaka: «Matshozi 6 Jours» aus Puppen.
Falonne Mambu: «Femme Électrique» aus Elektrokabeln.
Falonne Mambu: «Femme Électrique» aus Elektrokabeln.
Junior Longa Longa: «Homme caoutchouc» aus Mofaschläuchen.
Junior Longa Longa: «Homme caoutchouc» aus Mofaschläuchen.
Mambu Duda: Figur aus Petflaschen.
Mambu Duda: Figur aus Petflaschen.
Gires Kanda: Figur aus Krawatten.
Gires Kanda: Figur aus Krawatten.

Als wandelnde «Femme Électrique», die sie aus Elektrokabeln geschaffen hat, nimmt sie Bezug auf die vielen Entführungen und Vergewaltigungen, die in den Slums von Kinshasa jeweils verübt werden, wenn es wieder einmal zu einem Stromausfall kommt und ganze Nachbarschaften in stockfinstere Nacht getaucht sind. «Im Dunkeln trauen sich die Leute kaum aus ihren Häusern. Wenn es Licht gäbe und mehr Menschen auf der Strasse wären, wäre die soziale Kontrolle grösser», sagt Mambu. Was sie selbst als junge Frau auf den Strassen erlebt hat und viele Mädchen heute noch erleben, thematisiert sie nun in ihren Bildern und Performances. «So kann ich durch meine Arbeit im öffentlichen Raum über sexuelle Gewalt sprechen», sagt Mambu, die ihr Kostüm auch schon bei Protesten gegen sexuelle Gewalt und Entführungen getragen hat.

Kris Pannecoucke, belgischer Fotograf und Filmemacher, wurde 1969 in Kinshasa geboren und ist dort aufgewachsen. www.krispannecoucke.com

Aus dem Englischen von Adrian Riklin.