Krieg gegen die Ukraine: Putins Schicksal
Das zweite Mal innert weniger Jahre hat das russische Regime mit der Annexion ukrainischer Gebiete gewaltsam Grenzen verschoben. Euphorie darüber will im Kreml allerdings nicht so richtig aufkommen.
Dass das russische Parlament die illegale Annexion der Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja gutheissen würde, stand ausser Frage. Am Montag sprachen sich die Mitglieder der Duma dann auch ohne Gegenstimme für die Angliederung der vier ukrainischen Gebiete aus. Und wie das unabhängige Medienportal «Agentstwo» bemerkte, stimmten sogar mehr Abgeordnete mit Ja, als überhaupt im Saal anwesend waren. Am Dienstag bestätigte auch das Oberhaus den Entscheid. Bis 2026 soll eine Übergangsfrist gelten, dann werden die Regionen und ihre Bewohner:innen «für immer russisch», wie Präsident Wladimir Putin es ausdrückte. Legitimer macht das die Einverleibung nicht.
Mit dem Anschluss einer Fläche, die mit ihren 108 000 Quadratkilometern fast dreimal so gross ist wie die Schweiz, hat Russland nach der Annexion der Krimhalbinsel zum zweiten Mal innert weniger Jahre die Grenzen in Europa gewaltsam verschoben. Teilweise unter vorgehaltener Waffe war die Bevölkerung der besetzten Gebiete gedrängt worden, sich in einem inszenierten Referendum für den Anschluss an Russland auszusprechen. Doch anders als 2014 nach der Einverleibung der Krim sind die Grenzen des neuen, grösseren Russland alles andere als klar – und ändern sich praktisch täglich.
Hardliner rufen gar nach dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen gegen die Ukraine.
Denn während das Regime auf dem Papier versuchte, Tatsachen zu schaffen, befreite die ukrainische Armee Ort um Ort und verschob damit das Kräfteverhältnis auf dem Kampffeld stetig zu ihren Gunsten. Erst am Wochenende mussten sich die russischen Streitkräfte aus der strategisch bedeutenden Stadt Lyman in der Region Donezk zurückziehen – nach der Gegenoffensive rund um Charkiw bereits die zweite grosse Niederlage innerhalb weniger Wochen. Am Dienstag dann meldete Kyjiw die Rückeroberung von fünf Orten in der Region Cherson. Die russische Front gerät damit immer weiter unter Druck. Entsprechend hilflos wirkt es, wenn Kremlsprecher Dmitri Peskow verlauten lässt, mit der Lokalbevölkerung «über die Grenzen der Regionen Cherson und Saporischschja diskutieren» zu wollen.
Eine Brandrede
Während die Grenzen des neuen Russland also volatil sind, bietet auch der gegenwärtige Zustand des Regimes Raum für Spekulationen. Die Mobilmachung, die Putin vor zwei Wochen verkündet hatte, trieb zuletzt Hunderttausende Männer in die Flucht – und sogar gemäss Umfragen staatlicher Meinungsforschungsinstitute ist eine Mehrheit der Bevölkerung «beunruhigt» über die Situation. Anders als 2014, als die «Heimholung» der Krim noch Euphorie auslöste und Putin ein Beliebtheitshoch bescherte, will sich nun nicht so richtig Freude einstellen. Zu sehen war das auch am Freitag, als der Machthaber seinen grossen Auftritt absolvierte.
Am frühen Nachmittag berief er seine Eliten für eine prächtige Zeremonie in den Grossen Kremlpalast im Herzen von Moskau, um den Landraub an der Ukraine zu besiegeln. Vor den Feierlichkeiten hielt Putin noch eine wütende Rede im ehrwürdigen Sankt-Georg-Saal, in dem er auch schon die Annexion der Krim verkündet hatte.
Umkämpfte Gebiete in der Ukraine
In seiner Rede erwähnte Putin dann aber die vier neu angeschlossenen Regionen und die Ukraine generell bloss am Rand – dafür liess er seinem Hass auf «den Westen» freien Lauf. Dieser habe Russland bereits im 17. Jahrhundert destabilisiert, heute sei er die Quelle allen Übels, das absolute Böse – nicht zuletzt wegen der Geschlechtsumwandlungen und des Ersatzes von Mutter und Vater durch zwei «Elternteile». Im Zentrum des Bösen verortete Putin die USA: einen «Satan», der die ganze Welt versklavt habe und dies immer noch tue. Deutschland? Noch immer von den USA besetzt – ein Narrativ, das auch die «Reichsbürger» verwenden. Und Russland? In Putins Augen ein «antikoloniales Projekt», die vielleicht letzte Bastion der Freiheit. Schliesslich zitierte der Machthaber noch einen seiner wichtigsten Stichwortgeber: den faschistischen Religionsphilosophen Iwan Iljin, der ab 1938 bis zu seinem Tod im Schweizer Exil lebte.
Die wohl besorgniserregendste Aussage der halbstündigen Rede war aber jene, dass die USA 1945 mit ihren Atombomben auf die beiden japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki «einen Präzedenzfall» geschaffen hätten. Ganz so, als wolle sich der Kreml in Zukunft daran orientieren. Seither streiten die Expert:innen darüber, ob der Einsatz russischer Atomwaffen noch ein Stück wahrscheinlicher geworden ist.
«Zusammen für immer!»
Ein paar Verschwörungsmythen, gepaart mit Antisemitismus und Transfeindlichkeit, rechtsextrem-religiöses Gedankengut und der Bezug auf linke Narrative: Putin war offensichtlich bemüht, ganz unterschiedliche politische Lager für sich einzunehmen – und dies vor allem im Westen. Was auf die feierliche Zeremonie im Kremlpalast folgte, war dann aber fast noch abstruser.
Busseweise waren die Menschen auf den Roten Platz gekarrt worden, um – Nationalfahnen schwenkend – ihrem Herrscher zu huldigen. Getrübt wurde die Party durch die Tatsache, dass viele, vor allem die Staatsangestellten und Student:innen staatlicher Universitäten, nicht wirklich freiwillig anwesend waren. Gesäumt war die Bühne von den beiden Sprüchen «Wahl des Volkes!» und «Zusammen für immer!». Man kam nicht umhin, dies als Drohung zu verstehen. Nach seiner Ansprache animierte Putin das Publikum wie im Stadion mit Hurrarufen zum Mitmachen. Allerdings sah er nicht gerade aus, als wäre ihm wirklich zum Feiern zumute.
Mit den fortlaufenden Verlusten der Armee gerät auch der Machthaber im Kreml zunehmend unter Druck. Seine Antwort darauf ist jeweils eine weitere Eskalation. Längst ist sein eigenes politisches Schicksal an den Verlauf des Krieges geknüpft – und unter Expert:innen eine Debatte über potenzielle Kämpfe innerhalb des Machtapparats entbrannt. Hardliner wie der tschetschenische Warlord Ramsan Kadyrow und Jewgeni Prigoschin, der Gründer der Gruppe Wagner – beide Vertreter paramilitärischer Organisationen –, rufen immer lauter nach «drastischeren Massnahmen» wie der Verhängung des Kriegsrechts oder gar dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen.
Unklar ist allerdings, wie stark ihr Einfluss tatsächlich ist. Und ob sie sich mit ihren Voten überhaupt gegen Putin wenden – oder vielmehr seinem Wunsch entsprechen würden, wenn sie unter den Generälen öffentlichkeitswirksam nach Schuldigen für die Niederlage an der Front suchten, wie der linke Publizist Ilja Budraitskis argumentierte. Während also vieles so schwammig bleibt wie die neuen russischen Grenzen, umriss der ukrainische Präsident am Dienstag sein Verhältnis zu Putin umso klarer: Als Reaktion auf die Annexion der vier ukrainischen Regionen unterschrieb Wolodimir Selenski ein Dekret, das jegliche Verhandlungen mit dem aktuellen Kremlherrscher ausschliesst.