Putins Poker: Zeichen der Schwäche
Mit der Teilmobilmachung läutet der Kreml eine neue Kriegsphase ein. Es ist ein Eingeständnis, dass seine bisherige Strategie gescheitert ist.
Im Februar war es noch der Präsident selbst gewesen, der seiner Kriegserklärung den passenden welthistorischen Anstrich verlieh, diesmal übernahm das russische Fernsehen die Einbettung. Auf dem Perwij Kanal erinnerte ein Moderator:innenduo am Mittwochmorgen an ein symbolträchtiges Ereignis: Am 21. September wird der Schlacht bei Kulikowo im Jahr 1380 gedacht, als der Grossfürst von Moskau die Truppen der Goldenen Horde besiegte und somit den Grundstein für die Befreiung von der Mongolenherrschaft legte.
Indem Putin alles auf eine Karte setzt, riskiert er auch den eigenen Untergang.
Nach diesem Geschichtsexkurs wurde Wladimir Putins seit Stunden erwartete Ansprache ausgestrahlt: Mit steinerner Miene verkündete er die Teilmobilmachung der Streitkräfte und läutete damit eine neue Phase seines Angriffskriegs gegen die Ukraine ein – den er allerdings weiterhin nicht «Krieg» nennt. Er folge dem Vorschlag des Verteidigungsministeriums, sagte Putin, das entsprechende Dekret sei schon unterzeichnet. Mit sofortiger Gültigkeit werden Reservisten und ehemalige Armeeangehörige eingezogen, bestehende Abmachungen mit Vertragssoldaten automatisch «bis zum Ende der Mobilmachung» verlängert. In einem anschliessend ausgestrahlten Interview sprach Verteidigungsminister Sergei Schoigu von «insgesamt 300 000 betroffenen Personen».
Dass der Kreml diesen Schritt vollziehen würde, hatte sich schon am Dienstag abgezeichnet. Das Parlament nahm einen Gesetzesentwurf an, der die strafrechtliche Verfolgung von Reservisten erlaubt, die nicht zur militärischen Ausbildung erscheinen. Zudem wurden «Referenden» angekündigt, die am Freitag beginnen und den (nicht legitimen) Anschluss der vier ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson an Russland besiegeln sollen.
Bisher hatte sich der russische Machthaber grösste Mühe gegeben, die Menschen in den Metropolen den Krieg nicht spüren zu lassen – aus Angst vor der Reaktion der Bevölkerung schreckte Putin lange vor einer Mobilmachung zurück. Doch je mehr Gebiete die ukrainischen Streitkräfte in den letzten Wochen befreiten, desto klarer wurde, dass die russische Militärstrategie gescheitert ist. Entsprechend lauter wurden auch die Stimmen der Hardliner, die nach einer Eskalation verlangten. Mit der Teilmobilmachung kommt Putin ihnen nun ein grosses Stück entgegen: Den eklatanten Personalmangel in der Armee will er mit Hunderttausenden jungen Männern beheben, die nun an die Front müssen, um als Kanonenfutter für die imperialen Fantasien des Regimes zu sterben.
Mit dem Anschluss der besetzten Gebiete hält sich Putin zugleich den Weg zur weiteren Eskalation der Lage offen: Jeden ukrainischen Befreiungsversuch wird er inskünftig als Attacke auf russisches Territorium werten können, was ihm wiederum die Möglichkeit gibt, doch noch eine Generalmobilmachung zu verkünden. Dazu passt auch, dass er in seiner Ansprache so konkret wie noch nie mit einem Atomschlag drohte, sollte der «kollektive Westen» nicht von seinem angeblichen Plan abrücken, Russland zu zerschlagen. «Das ist kein Bluff», sagte Putin, Russlands Schicksal sei es seit jeher gewesen, «jene zu stoppen, die die Weltherrschaft an sich reissen wollen». Nach Stärke klingen diese Worte nicht.
Putin will nicht nur die eigene Bevölkerung auf die kommenden Entbehrungen einschwören, sondern einmal mehr die westlichen Regierungen einschüchtern: Seine Drohgebärden sollen diese dazu bewegen, die Führung in Kyjiw unter Druck zu setzen. Auf dem Schlachtfeld ändert die Mobilmachung indes zunächst wohl wenig – bis die Reservisten vor Ort sind, dürften Monate vergehen. Woher die ganze Ausrüstung kommen soll, bleibt offen.
Indem Putin nun alles auf eine Karte setzt, riskiert er nicht zuletzt auch den eigenen Untergang. Aus einem Krieg gegen die Opposition sei einer gegen die ganze Gesellschaft geworden, schrieb der liberale russische Politologe Andrei Kolesnikow. Wie diese Gesellschaft auf den Einzug ihrer Söhne reagieren wird, ist noch offen. Am Mittwoch stiegen die Preise für Flugtickets ins Ausland auf ein Vielfaches. Und die Opposition rief erstmals seit Monaten zu landesweiten Protesten auf.