Krieg gegen die Ukraine: Mitten ins Herz
Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn schlagen russische Raketen im Kyjiwer Zentrum ein und bringen die Unsicherheit zurück, die viele in der Hauptstadt überwunden glaubten.
Eine trügerische Ruhe hatte sich über die ukrainische Hauptstadt gelegt, und das Letzte, womit Olesia an diesem Montag rechnete, war, dass direkt neben ihrem Arbeitsplatz eine Rakete einschlagen würde. «Ich hatte das Gefühl, dass es hinter mir Glas regnet», beschreibt die 38-Jährige den Moment, als sie gemeinsam mit ihrer zwölfjährigen Tochter Maria in das Hauptgebäude der nationalen Taras-Schewtschenko-Universität flüchtete.
Auf der Strassenkreuzung neben der knallrot bemalten Universität, im Zentrum der Stadt, schlug die erste Rakete dieses Vormittags ein. Das symbolträchtige Gebäude, benannt nach dem ukrainischen Nationaldichter, ist nur eine von mehreren Bildungs- und Kultureinrichtungen, die an diesem Tag beschädigt werden.
Die Luft riecht auch am Tag danach noch nach verkohlten Bäumen und Harz.
«Ich wusste, wo sich der Schutzraum befindet», erzählt Olesia, die sich in diesem Moment nur mit Vornamen vorstellt und an der Universität als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist. Sie war gerade dabei, ihre Tochter in die nahe gelegene Schule zu begleiten, als die Explosion die Fensterscheiben der umliegenden Häuser zerbersten liess.
Nun sitzen beide im Keller eines Gebäudetrakts, durch den man sich nur gebückt bewegen kann. Sie hält die Hand ihrer Tochter, daneben blicken die anderen Mitarbeiter:innen der Universität schweigend auf die Handybildschirme. In der Ecke brodelt das Wasser im Kocher, es gibt gleich Tee für alle. Eine bedrückende Szene, wie man sie in Kyjiw seit Monaten nicht mehr erlebt hat. Darüber, dass die Studierenden seit Kriegsbeginn online unterrichtet werden, sind viele hier erleichtert. Der Platz im Schutzraum würde an diesem Morgen sonst nicht reichen.
Ein Krater mitten auf der Strasse
Obwohl der Tag mit Luftalarm beginnt, trifft der russische Angriff Tausende Bewohner:innen der Innenstadt unvorbereitet. Und nachdem die Explosion neben der Universität einen tiefen Krater auf der Strassenkreuzung, ausgebrannte und aufeinandergeprallte Autos, Verletzte und einen Toten hinterlassen hat, versammeln sich am Unglücksort noch zahlreiche Schaulustige mit neugierigen Blicken. Der Krieg hat sich in Kyjiw zuletzt weit entfernt angefühlt, und die Frage, warum es eine nächtliche Ausgangssperre überhaupt noch brauche, hörte man immer öfter.
«Erst gestern Abend waren wir in einer Stand-up-Comedy-Vorstellung», sagt Olesia mit zitternder Stimme. Sie ist erst vor wenigen Monaten aus Paris zurückgekehrt, wohin sie nach dem 24. Februar mit ihrer Tochter Maria geflüchtet war. «Wir dachten, dass Kyjiw sicher sei», sagt sie. Nun überlegt sie, die Tochter zu Verwandten zu bringen, in den Westen des Landes, vielleicht auch wieder zurück nach Paris. Die Zwölfjährige, den Arm um ihren Hogwarts-Rucksack gelegt, chattet mit ihren Schulkolleg:innen. «Eigentlich hätte ich gerade Informatikunterricht», sagt Maria, die in dieser Situation ruhig und gefasst wirkt. Dann tönt von draussen dumpf das Geräusch einer weiteren Explosion. Olesia reicht ihrer Tochter einen Block und sagt, dass sie etwas Schönes malen soll. «Ich mache mir Sorgen um meine Mutter», erklärt Maria mit einem vielsagenden Blick.
Wie am 24. Februar
Mit den Explosionen kam am 10. Oktober auch die Unsicherheit zurück, die viele in Kyjiw überwunden glaubten. Manche fühlen sich gar an den 24. Februar zurückerinnert. Nicht nur, weil Präsident Wolodimir Selenski wie in den ersten Kriegstagen ein Video veröffentlichte, in dem er vor seinem Präsidialamt im Kyjiwer Zentrum stand und zu den Bürger:innen sprach, sondern auch, weil am Tag nach den Raketeneinschlägen wieder viele in die sicheren U-Bahn-Stationen flüchteten, so wie es Ende Februar der Fall war. Während die Einwohner:innen der Hauptstadt die Sirenen in den vergangenen Wochen weitestgehend ignoriert haben, lassen viele nun wieder Vorsicht walten.
Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn wurde das Zentrum von Kyjiw direkt von Raketen getroffen. Der Angriff kam, zwei Tage nachdem eine Explosion die russische Brücke zur Krim beschädigt hatte. Der ukrainischen Armee gelang es zwar, einen Grossteil der mehr als achtzig russischen Raketen und Drohnen abzufangen, doch bei weitem nicht alle.
Nur 200 Meter vor der Schewtschenko-Universität schlägt am Montagmorgen im gleichnamigen Park eine weitere Rakete ein und landet bei einem beliebten Spielplatz. Fünf Meter tief ist der Krater, der zurückbleibt. Die Luft riecht auch am Tag danach noch nach den verkohlten Bäumen und Harz. In der Strasse, die dem Park entlangführt, stehen imperiale Häuser, deren Geschichte sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt.
Auch das bedeutendste Kunstmuseum des Landes befindet sich hier, das Khanenko-Museum. So wie die anderen Gebäude steht es nun mitten in der Innenstadt ohne Fensterscheiben da. Ein Bild, wie man es bisher vor allem aus Charkiw im Nordosten oder Mykolajiw im Süden des Landes kannte. Und so, wie man es auch aus den beiden Städten kennt, beginnen die Nachbar:innen in Kyjiw nach dem Ende des Luftalarms mit den Aufräumarbeiten. Rastlos und entschlossen fegen sie das Trottoir und beseitigen das zerbrochene Glas sowie die Holzsplitter, die verbrannten Äste. Handwerker setzen Sperrholzplatten in die Fensterrahmen. Der Krieg dauert schon bald acht Monate.
Powerbank, Kerzen, Alkohol
Im Innenhof hinter dem Khanenko-Museum, der auch als Parkplatz dient, steht Miro Krysch und zeigt auf den zweiten Stock eines schmucklosen Wohngebäudes, wo sich seine Wohnung befindet. Dann scrollt er durch das Fotoalbum auf seinem Handy, bis er das Bild findet, auf dem das Wohnzimmer zu sehen ist. «Ein Stück ist aus der Decke gebrochen», erzählt der 37-Jährige. «Nichts Schlimmes. Die Materialien, die für das Haus verwendet wurden, sind nicht die besten, und die Explosion war heftig. Ich bin überrascht, dass nicht mehr passiert ist.»
Die Bar, die Krysch betreibt, befindet sich unter seiner Wohnung, im Erdgeschoss. Am Tag nach der Explosion ist sie bereits wieder gut besucht. Junge Männer und Frauen trinken im mit Lichterketten dekorierten Gastgarten Club-Mate und unterhalten sich in der Herbstsonne über die Ereignisse des Vortags, als handle es sich um ein besonders verrücktes Wochenende. Neben ihnen zieht Tamara Babakowa Metallsplitter aus den Büschen, Überbleibsel der Bombe, die überall auf dem Parkplatz verstreut sind. Vorsichtig hebt sie einen Splitter auf und legt ihn zu den anderen in die Kartonschachtel. «Wir sammeln das Metall und werden daraus Münzen machen. Den Erlös werden wir an das Khanenko-Museum spenden», erzählt die 33-Jährige, eine Freundin des Barbetreibers. Miro Krysch nickt zustimmend und ergänzt: «Immerhin hat das Museum alles abbekommen und unsere Bar gerettet, wenn man das so sagen kann.»
Im ganzen Land seien mehr als siebzig Objekte beschädigt worden, darunter auch Infrastruktureinrichtungen wie Kraftwerke und Heizwerke, Wohngebäude und Hochhäuser, teilte Polizeichef Ihor Klymenko auf seinem Facebook-Profil mit. Mindestens achtzig Menschen wurden verletzt, zwölf starben, die Hälfte davon in Kyjiw. In der Hauptstadt werden die Einwohner:innen seit dem Angriff dazu angehalten, ihren Stromverbrauch einzuschränken. Ohne die Strassenlaternen und die Leuchtreklamen ist die Stadt nun nachts besonders dunkel.
Doch mit Ausfällen in der Stromversorgung und beim Heizen rechnet die Bevölkerung ohnehin seit Monaten. Es lag auf der Hand, dass Russland versuchen würde, die kritische Infrastruktur zu beschädigen. «Wir besitzen alle eine Powerbank, die seit Kriegsbeginn voll aufgeladen ist», sagt Tamara Babakowa. Und für den Fall, dass der Strom auch in diesem Stadtteil ausfällt, habe man vorsorglich Kerzen gekauft, erklärt Krysch. «Dann servieren wir eben nur noch Getränke und keine Speisen. Unsere Gäste werden trotzdem kommen. Wir waren die erste Bar, die nach Kriegsbeginn wieder geöffnet hat. So schnell lassen wir uns nicht unterkriegen.»
Hinter dem Bartresen stehen auf einem Regal mit der Aufschrift «Für den Tag des Sieges» mehrere Flaschen Wodka, Tequila und Prosecco. Um den Flaschenhals tragen sie Namensschilder. «Unsere Gäste können hier ihre eigene Flasche kaufen», sagt Babakowa. «Eine gute Investition. Denn an dem Tag, an dem wir gewinnen, wird uns der Alkohol sicher bald ausgehen.»