Kunst und Krieg: Wie kommt Gewalt in die Bilderrahmen?

Nr. 44 –

Jeder Krieg trägt neue Fragen an die alte Kunst heran. Das Kunstmuseum Winterthur zeigt einen klugen Querschnitt über gut 500 Jahre Kunst zu Krieg, von Albrecht Dürer über Francisco de Goya bis Harun Farocki.

Radierung: Jacques Callots «Pillage et incendie d’un village» von 1633
Wie eine Graphic Novel aus dem Dreissigjährigen Krieg: Jacques Callots «Pillage et incendie d’un village» von 1633. Radierung: Kunst Museum Winterthur, Stiftung Oskar Reinhart

Alles aus dem Lot, nur der Engel schwebt wunderbar waagrecht durch die Wolken. Im gewaltigen Durcheinander von Albrecht Dürers berühmtem Holzschnitt «Die apokalyptischen Reiter» stechen die vier Hauptfiguren hoch zu Ross auch deshalb aus dem Gewühl hervor, weil sie Objekte mit sich führen: Der abgemagerte Tod trägt eine Mistgabel, ein Zweiter spannt Pfeil und Bogen, der Dritte schwingt das Schwert. Doch am augenfälligsten ist der apokalyptische Reiter in der Bildmitte: Er schwenkt die Waage in seiner rechten Hand so heftig, dass deren Schalen fast senkrecht durch die Luft fliegen.

Die beiden Bewaffneten künden vom Krieg, der Tod mit der Gabel von seinen Folgen. Die Waage steht für explodierende Teuerung und knappe Ressourcen, symbolisiert aber auch bildmächtig das orientierungslose Chaos. Am unteren Bildrand: zertrampeltes Fussvolk, dazu ein dahingestreckter Bischof, sein Kopf schon unrettbar im Rachen eines gefrässigen Untiers. Auch die Kirche, damals Zentralorgan für Seelenheil und Sinnstiftung, wird also verschlungen vom Drachen Krieg, zumindest in Gestalt ihrer weltlichen Repräsentanten. Kommt uns das nicht alles recht aktuell vor?

Hochformatig in den Himmel

Dürers Illustrationen der biblischen Apokalypse nach Johannes sind in der schlicht mit «Kunst und Krieg» betitelten Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur die ältesten Werke. Erschienen um 1500, zum hochformatigen Künstlerbuch gebunden, steigen die Bilder, der biblischen Vorlage folgend, bis zu den Engeln hinauf. Gut 130 Jahre später finden wir uns unter einem auffallend leeren Himmel wieder, auf dem sehr irdischen Boden des Kriegsalltags, wie ihn der lothringische Kupferstecher Jacques Callot in seinen flachen, ungefähr postkartengrossen Druckgrafiken imaginierte. Bevor es das überhaupt gab, zeichnete er Szenen aus dem Dreissigjährigen Krieg wie eine Graphic Novel: als eine Reihe von actionreichen Tableaus, unterlegt mit Text.

Beim Thema Krieg strebt auch das Gemalte in Richtung Bewegtbild.

Eine erstaunliche Arbeit, in deren Detaildichte man sich verlieren kann. Ihre Schlaglichter auf grausame Folterszenen und das Gewirr einzelner Kampfschauplätze lassen Kriegsfilme von heute anklingen wie «The Northman» mit seinen dramatisch inszenierten Brandschatzungen und Überfällen auf einsame Höfe. Vor allem aber lieferte Callots «Les misères et les malheurs de la guerre» von 1633 ein Vorbild für die heute weltberühmten Zeichnungen «Desastres de la guerra» von Francisco José de Goya 180 Jahre später.

Zerrissen zwischen seinen Sympathien für die Französische Revolution und seiner patriotischen Loyalität zu Spanien, strichelte Goya Nahaufnahmen von der beidseits enorm verlustreichen französischen Invasion in sein Heimatland. Goyas Zerrissenheit schlägt sich in einem – verglichen mit Callot – noch deutlicheren Fokus auf menschliches Leid und Versehrung nieder. Keine Kriegsdramaturgie, kaum Schlachtszenen, im Zentrum steht das emotionale Kondensat des Danachs: Elend, Leid und Trauma; Menschen, die alles verloren haben und hohläugig, sich übergebend oder wahnsinnig geworden zwischen Leichenhaufen herumirren.

Goya, schon zu Lebzeiten ein bekannter Künstler, griff für seinen Kriegszyklus ebenfalls zum Mittel der Druckgrafik. Das hatte auch pragmatische Gründe: Er konnte selbstbestimmt, ohne Auftrag, arbeiten – und musste sich nicht an zeitgenössische künstlerische Gepflogenheiten oder Zensurbehörden halten. Ausserdem sind die Grafiken einfach und in guter Qualität reproduzierbar, die Arbeit existiert heute in zig Auflagen. Die Druckgrafik ist auch ein wirkmächtiges Kommunikationsmedium.

Man denkt dabei unweigerlich an aktuelle Kriegsbilder, an die mit Smartphones aufgezeichneten Fotos und Kurzfilme, die via Tiktok und andere Plattformen ohne Prüfung und Vermittlung sekundenschnell weiterverbreitet werden, potenziell an ein Millionenpublikum.

Und doch gibt es entscheidende Unterschiede zwischen den feinen Schwarzweisszeichnungen und verwackelten Handyvideos. Aufzeichnung und Verbreitung finden heute oft beinahe gleichzeitig statt, in Realzeit, während der Krieg weitertobt. Goyas achtzigteilige «Desastres»-Reihe erschien dagegen erst 35 Jahre nach seinem Tod vollständig. Womöglich fürchtete er aufgrund der drastischen Bilder um seinen Ruf. Als er kurz vor seinem Tod 1828 nach Frankreich flüchtete, liess er die Druckplatten in Spanien zurück.

Diese zeitlich verschobene Publikation ist das eine. Aber natürlich führt bereits das nachträgliche Aufzeichnen und Ätzen der Druckplatten in der Werkstatt eine Distanz ein, eine feine Schutzhaut auch: als ob uns der Künstler mit seinen Bearbeitungen wenigstens einen Teil des gezeigten Horrors abnimmt, anstatt uns den Schrecken direkt von den Schlachtfeldern auf die Bildschirme zu schicken.

Gegen Wahrheit und Realität

Die Frage, wie sinnvoll – oder ethisch – explizite Gewaltdarstellungen sind und wie verlässlich ihre Faktentreue, ist wohl so alt wie die Bebilderung des Krieges selber. Bei ­Jacques Callot etwa schwankte das Publikum zwischen Propagandavorwürfen und Lob für seine Objektivität. Goya wiederum hat die heute in unzähligen Varianten überlieferte Einsicht, dass das erste Opfer des Krieges immer die Wahrheit sei, direkt in ein Bild gebannt: Sein «Murió la Verdad» zeigt die als Frau im weissen Kleid allegorisch verkörperte Wahrheit als dahingestreckte Leiche.

Mitte der 1980er Jahre formulierte der Beschleunigungstheoretiker Paul Virilio eine bedenkenswerte Erweiterung des Satzes von der gefallenen Wahrheit: Das erste Opfer des Krieges sei das «Konzept der Realität». Krieg hebelt unsere alte Wahrnehmung aus. Womöglich ist es das, was Politiker:innen heute mit der Rede von der «Zeitenwende» meinen, doch Virilios Bonmot ist viel präziser. Für ihn geht es vor allem um eine Frage der Perspektive: Die Kriegsgewalt zwingt uns eine neue Realität auf.

Der Medienphilosoph Jean Baudrillard trieb diese Realitätsauflösung noch weiter, dachte sie vor allem von den Repräsentationen her. Sein Argument gipfelte im weithin als Provokation wahrgenommenen Satz, der Golfkrieg habe gar nicht stattgefunden. Doch natürlich wollte Baudrillard nicht den Krieg in Abrede stellen, sondern auf die Auflösung seiner blutigen Realität im medialen Bildersturm verweisen. Wer kann noch sagen, was real, was Simulation ist?

Wahr ist: Die Medien verbreiteten zum Zweiten Golfkrieg in den 1990er Jahren viel Pentagon-Propaganda: startende Kampfjets im Morgenlicht, Hochleistungsbomber, die wie Dürers Engel schnurgerade über die Wüste düsten. Es entstand das Zerrbild eines klinischen, sauberen Krieges, vermeintlich ohne Opfer. Die Rede war von Präzisionsschlägen, durchgeführt aus sicherer Distanz mit sogenannten intelligenten Bomben.

Gemälde von Gerhard Richter: «Bagdad (914-9)» von 2010
Gegenbild zum angeblich klinisch sauberen Krieg: Gerhard Richters «Bagdad (914-9)» von 2010. Foto: Hatje Cantz

Da muss die Kunst Kontra geben. In Winterthur etwa mit den grellfarbigen Lackbildern des deutschen Grosskünstlers Gerhard Richter. «Bagdad» nennt er seine Reihe. Richters bis zur Unkenntlichkeit abstrahierte Sicht auf diese von so vielen Kriegen zerrüttete Stadt liegt sicher ausserhalb jeder propagandistischen Vereinnahmung. Als künstlerische Aneignung einer historischen Realität bleibt sie aber auch wenig fassbar.

Konkreter ist ein anderes Gemälde von Gerhard Richter in der Ausstellung: Fotorealistisch abgemalte US-Kampfflugzeuge im Zweiten Weltkrieg, die ihre Bomben abwerfen. Sie wirken seltsam unwirklich, bedrohlich, doch auch hier bleiben die Opfer ausgespart. Die Folgen solcher Attacken aus der Luft malte Frans Masereel umso plastischer in schwarzer Tusche auf eine lange Papierbahn, sein «En France / Juin 1940» ist ein Höhepunkt der Winterthurer Ausstellung. Was angesichts von Masereels furioser, erfahrungsgetränkter Bildergeschichte nochmals deutlich wird: Beim Thema Krieg strebt auch das Gemalte in Richtung Bewegtbild.

Training und Nachbereitung

Zu den aktuellsten Arbeiten im Kunstmuseum gehört die Videoreihe «Ernste Spiele» von Harun Farocki. Hier verschiebt sich die Wahrnehmung nochmals neu. Farocki interessiert sich für Kriegssimulationen am Computer, die in der US-Armee als Trainingseinheiten benutzt werden, aber auch zur Analyse von schiefgegangenen Militäraktionen. Die traumatisierten Soldaten werden gezwungen, mit der Virtual-Reality-Brille am Kopf das Erlebte nochmals durchzugehen, was für viele von ihnen zur Tortur wird. Hier blitzt eine Erkenntnis auf, die Susan Sontag in ihrem letzten Buch, «Die Leiden anderer betrachten», anhand von Kriegsfotografien entwickelt hat: Bilder suchen uns heim, können auch als Erinnerungsstützen dienen, sie helfen aber nur sehr bedingt beim Verstehen. Dazu braucht es die Erzählung.

Bleibt also die Frage, was der Erkenntniswert von unverblümt ins Bild gesetzter Gewalt ist. Sie lässt sich vielleicht am klarsten ex negativo beantworten: Man muss die grausamen Konsequenzen des Krieges deshalb zeigen, weil Kriegstreiber von Donald Rumsfeld bis Wladimir Putin immer darauf bedacht waren, dass der Tod und das Verderben, das die eigenen Truppen verursachen, in den verbreiteten Bildern unsichtbar bleiben.

«Kunst und Krieg» im Kunst Museum Winterthur (Reinhart am Stadtgarten). Bis 12. Februar 2023. www.kmw.ch