«NSU-Akten»: Vernichtendes Zeugnis für den Verfassungs­schutz

Nr. 44 –

Um den geheimen Untersuchungsbericht rankten sich in Deutschland viele Mythen. Jetzt wurden die geleakten «NSU-Akten» veröffentlicht. Sie ermöglichen einen seltenen Einblick in die fragwürdige Arbeit eines Verfassungsschutzamts.

Manchmal können Jahreszahlen misstrauisch machen. Zum Beispiel wenn sie auf einem Schreiben des Verfassungsschutzes des deutschen Bundeslands Hessen stehen. In einem kleinen Kasten heisst es da: «Die VS-Einstufung endet mit Ablauf des Jahres: 2134.» VS steht für «Verschlusssache». Der beiliegende 172-seitige Bericht sollte also eigentlich 120 Jahre lang unter Verschluss bleiben. Und damit auch das vernichtende Zeugnis über die Arbeit der Behörde, das er enthält.

Seit Freitag steht das Dokument allerdings auf der Website www.nsuakten.gratis zum Download bereit. Das Portal «Frag den Staat» und die TV-Satiresendung «ZDF Magazin Royale» um Moderator Jan Böhmermann haben es veröffentlicht. Die Rede ist vom «Abschlussbericht zur Aktenprüfung» des hessischen Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2014. Er wurde 2011 nach der Selbstenttarnung des rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) vom hessischen Innenministerium in Auftrag gegeben. Der NSU war verantwortlich für mindestens zehn Morde und drei Bombenanschläge.

Der Geheimdienst wurde angewiesen, die eigenen Akten auf übersehene Hinweise auf den Nationalsozialistischen Untergrund zu überprüfen, aber auch auf weitere rechtsterroristische Strukturen sowie auf den Besitz von Waffen und Sprengstoff in der Szene. Gemäss einer Schätzung der Behörde wurden schliesslich rund eine Million Blatt Papier in etwa 3500 Aktenbänden durchgesehen und ausgewertet.

Vieles bleibt ungeklärt

Das Ergebnis sollte der Öffentlichkeit vorenthalten werden. Dass der Bericht überhaupt existiert, machte erst ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss bekannt. Schnell wurde das Dossier unter dem stark vereinfachenden Namen «NSU-Akten» zu einer Art Mythos und zum Symbol für das Mauern der Behörden bei der Aufarbeitung des rechten Terrors. Die erwähnten 120 Jahre Geheimhaltung, später auf 30 Jahre verkürzt, machten viele Menschen misstrauisch.

Mit gutem Grund: In der NSU-Affäre ist die Rolle der Verfassungsschutzämter sowie der als V-Leute bezeichneten Spitzel in der Neonaziszene bis heute nicht restlos aufgeklärt. Die rassistische Mord- und Anschlagsserie beendete schliesslich nicht die Ermittlungsarbeit der Behörden. Vielmehr setzte die Aufklärung erst ein, nachdem ein Banküberfall des NSU gescheitert war und infolgedessen zwei Täter Suizid begingen.

Die Forderung, die Akte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, war immer wieder erhoben worden. Die hessische Landesregierung aus CDU und Grünen hatte stets argumentiert, das Dokument dürfe nicht öffentlich werden, unter anderem, um die Zuträger:innen des Geheimdiensts zu schützen. «Auch die Kinder und Enkel von V-Leuten», wie es der Verfassungsschutz einmal selbst formulierte, um die ungewöhnlich lange Frist zu erklären. Der Quellenschutz sei «zwingend für die Funktionsfähigkeit der Sicherheitsbehörden».

Für viele Kritiker:innen wird dieses Argument aber nicht nachvollziehbarer, seit das Dokument öffentlich ist. Zentrale Inhalte waren ausserdem bereits durch den Untersuchungsausschuss und journalistische Recherchen bekannt. Hinweise auf Quellen sind zumindest im zusammenfassenden Teil des Berichts nicht enthalten.

Fragwürdige Analysefähigkeit

Das Urteil, das der hessische Verfassungsschutz in dem Bericht über seine eigene Arbeit in den 1990er und 2000er Jahren fällt, ist jedenfalls desaströs. Zwar stellt er fest, dass man keine direkten Spuren zum NSU entdeckt habe, die übersehen worden seien. Er räumt aber auch ein, dass einige «Aktenstücke» gar nicht mehr aufzufinden sind.

Hinweise auf «mögliche terroristische Ansätze» waren im fraglichen Zeitraum durchaus registriert worden. Aufhorchen lässt der Umgang damit. So heisst es in dem Dokument: «Ausserdem fielen zahlreiche Hinweise auf Waffenbesitz von Rechtsextremisten an, die zum Zeitpunkt des Informationsaufkommens in der Regel nicht bearbeitet worden waren.» Will heissen: Waffen verblieben in den Händen von Neonazis.

Auch die Analysefähigkeit des Geheimdiensts zu jener Zeit stellt der «Aktenprüfbericht» infrage: Häufig sei bei Quellen weder nachgefragt noch versucht worden, Informationen zu verifizieren «oder in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und zu bewerten». Schlimmer noch: «Interessanten Hinweisen oder Anhaltspunkten wurde […] nicht immer konsequent nachgegangen.»

Wer grundlegend neue Erkenntnisse zum Staatsversagen im Fall NSU erwartet hatte, ist von der jetzigen Veröffentlichung womöglich enttäuscht. Dem Mythos, der sich rund um die «NSU-Akten» gebildet hat, vermögen diese kaum gerecht zu werden. Sie geben allerdings einen wertvollen und seltenen Einblick in die Arbeitsweise eines Verfassungsschutzamts. Und verdeutlichen dabei zweierlei: wie viele Informationen aus der rechten Szene eigentlich bei der Behörde eingegangen waren. Und wie fahrlässig diese damit umging. Sie war nicht schlicht auf dem «rechten Auge blind», wie es oft heisst, sondern offenbar nicht willens oder in der Lage, Hinweise analytisch einzuordnen – und vor allem zu handeln.

Martín Steinhagen ist Autor von «Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt». Schon im Zuge seiner Recherche für das 2021 erschienene Buch erhielt er Einblick in die «NSU-Akten».