Ein Traum der Welt: In der Atommüllprovinz

Nr. 46 –

Annette Hug fragt sich, wer Verantwortung übernehmen kann

Zum dritten Mal in diesem Jahr bin ich in der deutschen Provinz unterwegs. Das ist da, wo noch viele Restaurants geschlossen sind, weil das Personal während der Pandemie entlassen wurde und jetzt nicht zurückkommt. Im thüringischen Ilmenau retteten wir uns gegen Mitternacht in den Drive-in-McDonald’s. Im Norden Niedersachsens, am Rand des Grossen Moors, haben Hotels die Heizung in den Gästezimmern schon mal ausgeschaltet.

Da wars im Wendland doch etwas gemütlicher. An einem warmen Sommerabend sassen wir dort vor einem Kulturzentrum mit dem Charme eines Jugendzentrums aus den achtziger Jahren: zusammenramüsierte Möbel, ein durchgetanzter Holzboden, ein Mikrofon pfeift. Allerdings waren da keine Jugendlichen mehr zu finden, sondern Rentner:innen, die mit ihrem Kulturzentrum älter geworden sind.

Im Sommer nahmen sie ein uraltes Thema wieder auf: Endlagerung radioaktiver Abfälle. Ihr Protest gegen die Castor-Transporte ins Zwischenlager Gorleben hatte den Landkreis in ganz Europa bekannt gemacht. Jetzt sind mir diese Veteran:innen eine Art Chor geworden, der Ereignisse kommentiert.

Zum Beispiel, wenn der CEO der Nagra, der Schweizer Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, kein Problem darin sieht, dass in der Schweiz eine Genossenschaft der Energieunternehmen dafür zuständig ist, den Atommüll eine Million Jahre lang sicher zu lagern. «Da muss ich als Erstes mal festhalten, dass ich persönlich selten auf der Welt ein Projekt gesehen habe, das der Staat besser macht als private Firmen. Dass wir eine privatrechtlich organisierte Firma sind, gibt uns eine gewisse Dynamik, eine gewisse Zielgerichtetheit», sagt Matthias Braun im Gespräch mit der Journalistin Michèle Roten. Und ich höre die Veteran:innen im wendländischen Kulturzentrum schmerzlich, aber durchdringend lachen.

Denn wie war das mit dem Schacht Asse bei Braunschweig? Da hatte ein privater Betreiber Fässer mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen in ein stillgelegtes Salzbergwerk gekippt. In den achtziger Jahren brach Wasser in diese Stollen ein. 2008 übernahm dann das Bundesamt für Strahlenschutz den Schacht. Ein Veteran im Wendland fasst zusammen: Als die Produzenten des Atommülls erfuhren, dass die Regeln bald strenger würden, kippten sie schnell noch möglichst viele Fässer in die lecken Schächte. Und ein besonderes Gaudi war jene Stichprobe, die ergab: In dem Fass war gar nicht drin, was auf die Schnelle deklariert worden war.

Wo «privat» draufsteht, muss auch nicht «Firma» drinstecken. Der fahrlässige Betreiber des Schachtes Asse war ein privates Forschungsinstitut, das heute Helmholtz Munich heisst. Es wird vom Freistaat Bayern und dem deutschen Bund getragen. So wie ja auch die Energiebetriebe, aus denen die Nagra besteht, weitgehend in öffentlichem Besitz sind. Aber sie sollen eben wie private Firmen funktionieren, weil nur das effizient sei. Es sei denn, die Energiepreise spielen verrückt, und der Staat muss mit einer Liquiditätsspritze für die Axpo einspringen.

So dreht sich einiges im Kreis in einem ungeheizten Hotelzimmer vor einem Gespräch zur Frage, wie es denn möglich sei, vernünftig darüber nachzudenken, dass wir einen Müll verwahren müssen, der auch noch in 200 000 Jahren gefährlich sein wird.

Annette Hug ist Autorin des Romans «Tiefenlager», in dem sie ein Endlagerkloster erfunden hat.