Istanbul: Im Zweifelsfall die Kurd:innen

Nr. 46 –

Eine Bombe detoniert in Istanbul, und die Schuldigen sind erstaunlich schnell gefunden. In der Türkei herrscht Wahlkampf – die Suche nach Wahrheit scheint dagegen nebensächlich.

bewaffnete Polizisten an einer Strassensperre in Istanbul
Was hinter dem Anschlag steckt, ist noch unklar: Strassensperre in Istanbul am Sonntag. Foto: Ksenia Semenovskaya, Keystone

Um 16.20 Uhr Ortszeit geht am Sonntag in der belebten Istiklalstrasse Istanbuls eine Bombe hoch. Die Explosion tötet sechs Zivilist:innen, achtzig werden verletzt. Die Türkei verhängt sogleich eine Nachrichtensperre: Journalist:innen in der Türkei ist es nicht gestattet, über das Geschehen zu berichten. Dass das letzten Monat erlassene «Desinformationsgesetz» Journalist:innen untersagt, staatlichen Erzählungen zu widersprechen, tut sein Übriges, um kritische Berichterstattung zu unterbinden.

Trotz der Nachrichtensperre kursieren aber bald Bilder von Toten und Verletzten in den sozialen Medien. Der «Geruch von Terrorismus» liegt in der Luft, weiss Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan schon früh. Und weniger als 24 Stunden nach dem Attentat wird die vermeintliche Täterin bereits gefasst und öffentlichkeitswirksam vor das Volk gezerrt – wortwörtlich. Videos der Festnahme verbreiten sich; davon, wie die beschuldigte Frau an den Haaren gezogen und im Schlafanzug mit zerzaustem Haar vor zwei türkische Flaggen gestellt wird. Mittlerweile kursiert das Video einer somalischen Frau, in dem sie andere somalische Menschen vor dem Rassismus im Zuge dieser Festnahme warnt.*

Schweden hat die Listen zur Ausweisung kurdischer Aktivis­t:in­nen schon gefüllt.

Die sichtlich verängstigte Beschuldigte soll laut den Behörden aber eine aus Idlib stammende Syrerin sein. Sie sei nicht nur von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), sondern auch von den syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) zur professionellen Bombenbauerin ausgebildet worden. Und sie habe den Befehl zur Ausübung des Anschlags direkt aus Kobanê erhalten, einer Stadt in Nordsyrien nahe der türkischen Grenze. Das ist ein Eklat, denn die YPG ist seit 2014 bewährte Partnerin der USA im Kampf gegen den «Islamischen Staat», und just wies die türkische Seite denn auch die Kondolenzbekundungen der USA ab. Diese hätten den kurdischen Terror schliesslich jahrelang finanziert.

Hass und Hetze

Der Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens läuft wie geplant: Schweden hat die Listen zur Ausweisung kurdischer Aktivist:innen schon gefüllt und die Kriminalisierung der YPG vorangetrieben. Auch deutsche Justizbehörden stehen in regem Austausch mit Ankara. Und die USA sind weiterhin militärischer und politischer Partner der Türkei. Mit Antony Blinken amtet ein ausgewiesener Türkeifreund als Aussenminister. Über all das sieht die türkische Regierung hinweg. Sie nutzt den Anschlag, um weiter internationalen Druck aufzubauen und die Verhandlungsposition der Türkei zu verbessern.

Dass der Oberkommandeur der Demokratischen Kräfte Syriens, Mazlum Kobanê, sowie die Medienorgane der PKK am Tag nach dem Angriff ihr Bedauern äussern – nicht der Rede wert. Dabei kommunizieren sie alle deutlich, dass PKK und YPG mit diesem Angriff nichts zu tun hätten, sich Angriffe der PKK ausschliesslich gegen Polizei und Militär richteten und dass die YPG sowieso keine Terrorangriffe ausübe, sondern eine Bodentruppe im klassischen Sinn sei.

Der Anschlag liefert der Regierung aber ein neues Argument für ihre Bemühungen, den bei zehn Prozent liegenden Stimmenanteil der prokurdischen HDP zu verringern – der einzigen nennenswerten politischen Kraft ausser der rechten Regierung und dem Oppositionbündnis, die sich gerade in nationalistischer und fremdenfeindlicher Hetze überbieten.

In der Türkei herrscht Wahlkampf. Erdoğans AKP-MHP-Koalition kämpft um ihre Macht; die überwiegend kurdische HDP könnte ihr im Weg stehen. Wie fast immer in der bald hundertjährigen Geschichte der türkischen Republik kommt der Kurd:innenfrage auch heute noch eine zentrale machtpolitische Rolle zu.

Wer braucht schon Wahrheit?

Dass die Türkei zur gewaltsamen Unterdrückung der Kurd:innen auch schon selbst Staatsterrorismus angewandt hat, ist keine Verschwörungstheorie. Der informelle Geheimdienst Jitem hat in den neunziger Jahren, also noch vor Erdoğans Amtsantritt, mutmasslich mehrere Tötungen verübt. Mindestens in einem Fall wurde der PKK zu Unrecht die Schuld dafür zugewiesen. Die Existenz des Jitem wurde vom Staat lange geleugnet, mittlerweile aber von der Justiz bestätigt. Entscheidend dafür waren die Ergenekon-Prozesse von 2007 bis 2013.

Viele der damals ermittelnden Staatsanwälte und involvierten Richter waren Anhänger Fethullah Gülens und gerieten 2016 nach dem zivilen Putsch Erdoğans selbst ins Visier des Staats. In Erdoğans Türkei sind die Ergenekon-Prozesse nurmehr eine Randnotiz. Zentrale Figuren des damaligen staatlichen Terrors wie etwa der Politgangster Alaattin Çakıcı sind auf freiem Fuss. Ihm wurde von Erdoğan Amnestie gewährt. Eine funktionierende Justiz, die Aufklärung von Verbrechen – das hat unter seiner Regierung keine Priorität. Eine ehrliche Suche nach Wahrheit ist nicht zu erwarten.

Dastan Jasim ist Politologin. Sie forscht am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg zu kurdischer politischer Kultur im Iran, im Irak, in Syrien und in der Türkei.

* Korrigenda vom 18.11.2022: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion steht fälschlicherweise, die Frau habe im Video behauptet, bei der Verhafteten handle es sich um ihre Schwester. Das war ein Übersetzungsfehler. Wir bitten für diesen Fehler um Entschuldigung.