Rojava vor den türkischen Wahlen: Hoffen auf Erdoğans Ende

Nr. 15 –

Immer wieder beschiesst die Türkei Ziele im Nordosten Syriens, um die Kurd:innen zu zermürben. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei am 14. Mai geht es daher auch um die Zukunft der Autonomiegbiete.

Zaher Aldin Chalil sitzt auf einem Kissen am Boden
Ob Türkei oder USA, «am Ende geht es allen nur um ihre eigenen Interessen», sagt Zaher Aldin Chalil, den alle nur Abu Hoger nennen.

Der Himmel über der Stadt Derik im Nordosten Syriens, den die Kurden Rojava nennen, dort, wo Syrien an die Türkei und den Irak grenzt, ist still. Nichts ist zu sehen bis auf ein paar Schäfchenwolken und einen Zeppelin, der von einer US-Militärbasis aufsteigt. Zaher Aldin Chalil (56), den hier alle nur Abu Hoger nennen, steht auf der Dachterrasse seines Hauses, hat die Augen wegen der tief stehenden Sonne zusammengekniffen, deutet in die Ferne, wo sich schneeweisse Gipfel der Gebirgskette des Çiyayê Cûdî aus der grünen Landschaft heben. «Von dort sind sie gekommen, um meine Frau zu töten.»

«Dort» ist die Türkei. Dass die Flieger kamen, ist jetzt fünf Monate her. Das Bild von Hedia Ebdulla mit ihrem entschlossenen Blick, von der Abu Hoger sagt, dass sie wie niemand anderes für den revolutionären Slogan «Jin, jiyan, azadî» («Frau, Leben, Freiheit») stand, hängt überlebensgross an der Wand im Wohnzimmer. Gestorben ist Abu Hogers Frau am 20. November 2022. Ermordet mit türkischen Raketen. Als Vergeltung für einen Anschlag 1200 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt, in Istanbul.

die Stadt Derik, im Hintergrund sind die Gipfel der Bergkette Çiyayê Cûdî zu sehen
Von der Stadt Derik aus sind die Gipfel des Çiyayê Cûdî zu sehen. Über die Bergkette kommen die Flugzeuge aus der Türkei.

Eine Warnung an den Westen

Eine Woche vor Hedia Ebdullas Tod, am 13. November 2022, hatte es in Istanbul einen Terroranschlag gegeben. 81 Menschen waren bei der Explosion auf der İstiklal Caddesi im Stadtteil Beyoğlu verletzt worden. Sechs Menschen starben. Die türkischen Behörden präsentierten sofort eine Schuldige: eine syrische Frau, die bei der Befragung angegeben haben soll, von militanten Kurden in Syrien ausgebildet worden zu sein. Hinter dem Anschlag, hiess es vonseiten der türkischen Behörden, stehe die YPG, eine kurdische Miliz, die als Teil der Syrian Democratic Forces (SDF) den Nordosten Syriens kontrolliert und der kurdischen Arbeiter:innenpartei PKK nahesteht – jener Gruppe, die von der Türkei und einigen ihrer westlichen Verbündeten wie den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft wird, nicht jedoch von der Schweiz.

Expert:innen bezweifeln die offizielle Darstellung der türkischen Behörden. Im Gegensatz zu früheren Anschlägen habe es kein Bekennerschreiben gegeben. PKK und YPG bestreiten bis heute, in den Anschlag involviert gewesen zu sein. Dennoch begann die türkische Armee eine Woche nach dem Anschlag mit einem Vergeltungsfeldzug gegen die Kurd:innen, sie startete die Operation «Klauenschwert». Ibrahim Kalin, Sprecher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, schrieb auf Twitter, die Zeit der Abrechnung sei gekommen. Erdoğan selbst sagte kurz darauf auf dem G20-Gipfel auf Bali: «Wer die Terrororganisation unter dem Vorwand des Kampfes gegen den IS unterstützt, beteiligt sich auch am Blutvergiessen bei Istanbuls jüngstem Terroranschlag.»

Sohn Goran trauert am Grab seiner Mutter Hedia Ebdulla auf dem sogenannten Märtyrerfriedhof bei Derik
Abu Hogers Frau Hedia Ebdulla wurde bei einem Raketenangriff getötet. Ihr Sohn Goran trauert an ihrem Grab auf dem sogenannten Märtyrerfriedhof bei Derik.

Eine Warnung, die sich offensichtlich an die westlichen Verbündeten der SDF richtete. Denn obgleich die PKK in den USA als Terrororganisation eingestuft wird, unterstützt das US-Militär die kurdischen Einheiten in Syrien seit 2014 im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Schliesslich waren die Kurd:innen und ihre Verbündeten die Einzigen, die sich dem Vormarsch der islamistischen Extremisten widersetzten, nachdem sich das Assad-Regime 2013 komplett aus den Gebieten im Nordosten Syriens zurückgezogen hatte. Bereits ab 2012 hatten kurdische Kräfte das Gebiet de facto autonom verwaltet. Nachdem der IS 2018 so gut wie alle einst kontrollierten Gebiete verloren hatte, riefen sie die «Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien» (AANES) aus. Diese erstreckt sich inzwischen über ein Drittel des syrischen Territoriums, auf dem fast fünf Millionen Menschen leben. International anerkannt ist sie nicht. Vor allem der Türkei ist die Selbstverwaltung ein Dorn im Auge.

«Und immer vor den Wahlen eskaliert die Situation», sagt Abu Hoger. Mitte Mai will Erdoğan erneut zum Präsidenten gewählt werden. Selten waren seine Umfragewerte so schlecht wie jetzt. Schon in der Vergangenheit waren Angriffe auf Kurd:innen in Syrien und Nordirak ein Mittel, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Auch vor dieser Reise nach Rojava im Februar ist die Lage angespannt, es gibt Warnungen vor einer möglichen Invasion. Doch dann passiert etwas Unvorhergesehenes: Am 6. Februar erschüttert ein Erdbeben der Stärke 7,8 den Süden der Türkei und den Nordwesten Syriens. Der Nordosten des Landes bleibt grösstenteils verschont. Abu Hoger sagt: «Hätte es das Beben nicht gegeben, weiss Gott, ob sie nicht erneut hier eingefallen wären.»

Elf tote Zivilist:innen

45 Autominuten von seinem Wohnhaus entfernt ist die Zerstörung vom letzten Angriff noch deutlich sichtbar. Zwischen den eingeknickten, verkohlten Strommasten und dem Schutt des Steuergebäudes eines Elektrizitätswerks bauen drei junge Männer an einem neuen Häuschen. Abu Hoger erinnert sich noch genau an die Nacht vom 19. auf den 20. November 2022. Es war Mitternacht, als es in der Ferne einen weit hörbaren Knall gab. Er und seine Frau Hedia Ebdulla versammelten Freiwillige bei der Moschee in Derik. Gemeinsam fuhren sie in die Richtung, aus der der Knall gekommen war.

Als sie in Teqil Beqil, dem Ort mit dem kleinen Elektrizitätswerk, eintrafen, fanden sie die zerstörte Station vor, einen Toten, einen Verletzten – und mehrere Fahrzeuge des US-Militärs. Das berichtet Abu Hoger übereinstimmend mit anderen Zeugen, die dies nach dem Angriff dem in Kamischli ansässigen Rojava Information Center berichtet haben. «Die Amerikaner sind nach dem Einschlag auch gekommen. Wir waren schon einige Minuten dort, da schrie ihr Übersetzer plötzlich: ‹Achtung, lauft weg! Sie greifen noch mal an!›» Dann hätten zwei weitere Explosionen die Nacht zerschnitten, erinnert sich Abu Hoger. Sein Auto wurde getroffen, er schwer verletzt. Kurz darauf: ein vierter Einschlag. Die Rakete traf das Auto, in dem Abu Hogers Frau und mehrere andere Zivilist:innen sassen, erzählt er. Alle wurden in den Flammen getötet. Insgesamt starben in dieser Nacht elf Zivilist:innen. Die Fahrzeuge des US-Militärs hätten den Ort verlassen, ohne zu helfen. Das US-Verteidigungministerium antwortet nicht auf Fragen zu dieser Nacht.

«Am Ende geht es allen nur um ihre eigenen Interessen», sagt Abu Hoger. Wie so viele hier kann er die Rolle der USA nicht wirklich verstehen: Einerseits hätten sie in der Region immer noch 900 Soldat:innen stationiert und würden behaupten, sie unterstützten die regionalen Truppen beim Kampf gegen den IS. «Auf der anderen Seite arbeiten sie in der Nato mit der Türkei zusammen.» Der US-Kongress stimmte im Januar der Lieferung von F16-Kampfjets an die Türkei zu – wenn die Türkei im Gegenzug grünes Licht für den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden gebe.

Auch die Erinnerungen an das Jahr 2019 sind bei vielen Menschen in Rojava noch frisch. Damals überfiel die Türkei die Städte Serê Kaniyê (auf Arabisch Ras al-Ain) und Girê Sipî (Tell Abiad) an der Grenze, nur wenige Tage nachdem der damalige US-Präsident Donald Trump dem türkischen Präsidenten Erdoğan am Telefon mitgeteilt hatte, einen Grossteil des Truppenkontingents aus dem Nordosten Syriens abzuziehen. Das Ziel der Türkei damals wie heute: einen dreissig Kilometer breiten «Sicherheitsstreifen» zwischen Selbstverwaltung und Türkei zu errichten. Das Gebiet möchte Erdoğan gleichzeitig dazu nutzen, syrische Flüchtlinge – mehr als 3,5 Millionen sollen derzeit in der Türkei leben – anzusiedeln und somit zwei Wahlkampfthemen zugleich zu bedienen: das «Kurd:innenproblem» und das «Flüchtlingsproblem». Beim damaligen Angriff starben 679 Menschen, 200 000 mussten fliehen. Und nicht nur das: Mindestens 750 mutmassliche IS-Anhänger konnten damals aus den von Kurd:innen bewachten Lagern entkommen.

Kortay Korkmaz, SDF-Kommandant
Kortay Korkmaz, SDF-Kommandant

«Wir führen de facto einen Krieg an zwei Fronten – gegen die weltgrösste Terrororganisation und gegen einen der militärisch mächtigsten Staaten der Welt. Wie soll eine kleine Truppe wie unsere, sei sie noch so tapfer, das schaffen?», fragt Kortay Korkmaz. Er ist 34 Jahre alt, einer der Kommandeure der Antiterroreinheiten der SDF. Von dem dreistöckigen Gebäude auf einem Militärgelände in der Region Hasaka, das aus Sicherheitsgründen nicht näher beschrieben werden soll, blättert grauer Putz ab; davor ist ein beiger Humvee geparkt, den die USA geliefert haben. Immer wieder sind in der Ferne dumpfe Explosionen zu hören. «Keine Sorge, die trainieren nur», sagt Korkmaz. Wenn er erzählt, versucht er, zuversichtlich zu wirken. Lächelt, als wolle er Sorgen und Müdigkeit weglächeln.

Korkmaz war Student, als 2012 der Krieg ausbrach und er sich den kurdischen Selbstverteidigungseinheiten anschloss. Rakka, Tabka, Manbidsch, Kobane, Afrin: Es gibt kaum einen Ort im Nordosten des Landes, an dem Korkmaz nicht gegen den IS gekämpft hat. Die letzte grosse Schlacht ist etwas länger als ein Jahr her. Damals hatten IS-Anhänger das Gefängnis in der kurdischen Stadt Hasaka angegriffen und viele ihrer Mitstreiter befreit. Anschliessend gab es einen zehntägigen Häuserkampf in der Region. Mutmassliche IS-Kämpfer verschanzten sich in Wohnsiedlungen und benutzen Kinder als menschliche Schutzschilde. Während der Kämpfe starben laut Angaben der SDF 121 Mitglieder der Selbstverteidigungseinheiten und 374 mutmassliche IS-Kämpfer.

Und selbst während der Kämpfe hätten die Angriffe der Türkei nicht aufgehört, sagt Korkmaz. Zwei Drohnenangriffe gab es in dieser Zeit laut dem Rojava Information Center: einen auf ein Elektrizitätswerk, einen auf ein Auto des Militärrats aus der Stadt Girê Xurma (Tell Tamer), mit dem den Kämpfern Hilfe gebracht werden sollte. «Wenn es der Welt mit ihrem Kampf gegen den Terror ernst ist, dann brauchen wir Unterstützung und jemanden, der uns vor den türkischen Angriffen, vor allem vor den Drohnen, schützt.»

Gemeinsame Ziele der Autokraten

Korkmaz klappt einen Laptop auf und zeigt uns ein Video des kurdischen Senders Ronahî TV. Es wurde nach dem IS-Angriff auf das Gefängnis in Hasaka aufgenommen und zeigt mutmassliche IS-Kämpfer, die von kurdischen Truppen festgenommen wurden. Der kurdische Sender zeigt Bilder von Whatsapp-Verläufen der Gefangenen: Sie beinhalten unter anderem ein Foto von Korkmaz, neben seinem Bild sein Name und die Beschreibung seines Autos. «Angeblich haben sie diese Informationen aus der Türkei bekommen», sagt Korkmaz. Für ihn ist es der Beleg, dass die Türkei und der IS direkt zusammenarbeiten.

Neu sind die Vorwürfe nicht. 2016 hatte die türkische Zeitung «Cumhuriyet» um den damaligen Chefredaktor Can Dündar berichtet, dass der türkische Geheimdienst Waffen an islamistische Gruppen in Syrien geliefert habe. Dündar floh darauf nach Deutschland. Gegen ihn wurden in der Türkei Verfahren wegen «Spionage» und «Terrorunterstützung» eingeleitet. Der türkische Präsident Erdoğan bezeichnete den Journalisten als Verräter und Agenten. Vor zwei Jahren wurde Can Dündar in Abwesenheit zu 27 Jahren Haft verurteilt. Laut der in Brüssel angesiedelten nichtstaatlichen Organisation International Crisis Group fanden in den vergangenen Jahren viele der ausländischen IS-Kämpfer nach der Flucht aus Syrien in der Türkei Unterschlupf. Und im November vergangenen Jahres hatte es laut SDF einen Angriff auf einen Wachposten des Gefangenenlagers in al-Hol gegeben, in dem bis heute Tausende IS-Anhänger und deren Familien festgehalten werden. Acht Wachen wurden getötet, mehrere Kämpfer konnten zwischenzeitlich fliehen. Auch die BBC berichtete darüber.

Die Türkei hat die Vorwürfe, den IS zu unterstützen, in der Vergangenheit immer bestritten. Auf Fragen der WOZ reagierten weder das türkische Aussenministerium noch die Botschaften in Deutschland und der Schweiz. Laut Devin Morrow von der nichtstaatlichen Organisation Conflict Armament Research (Car) sind die Vorwürfe nur schwer zu belegen. Die Organisation versucht, die Herkunft von Waffen in Konfliktgebieten zurückzuverfolgen – auch im Nordosten Syriens. Im Januar hat Car eine Recherche zu den Waffen, die bei drei grösseren IS-Operationen 2021 und 2022 konfisziert wurden, veröffentlicht; darunter auch beim Angriff auf das Gefängnis in Hasaka. «Wir haben nicht so viele in der Türkei produzierte Waffen gefunden, wie die lokalen Sicherheitskräfte oftmals denken. Das bedeutet allerdings nicht, dass es nicht die Möglichkeit gibt, dass die Türkei Material kauft und nach Syrien hineinbringt», sagt Morrow.

Sie hätten auf den Waffen der mutmasslichen IS-Kämpfer Markierungen gefunden, die sie vorher noch nicht gesehen hätten. Diese würden darauf hindeuten, dass die Waffen zuvor im Besitz der sogenannten Syrischen Nationalen Armee (SNA) waren – einem Zusammenschluss aus islamistischen Kampfeinheiten, die von der Türkei unterstützt werden und unter anderem das Gebiet um Serê Kaniyê und Girê Sipî kontrollieren, das die Türkei 2019 überfallen hatte. «Die gleichartigen Markierungen deuten darauf hin, dass die Waffen an zentraler Stelle beschafft, markiert und anschliessend verteilt wurden.» Von wem, könne man zum jetzigen Zeitpunkt aber kaum sagen.

Selbst wenn es keine direkten Verbindungen zwischen der Türkei und dem IS geben sollte, so scheinen ihre Ziele in Syrien doch übereinzustimmen: Beide wollen die Selbstverwaltung schwächen – und sie so früher oder später zu Fall bringen. Wim Zwijnenburg von der niederländischen Friedensorganisation Pax, die seit Jahren in der Region aktiv ist, sagt: «Ich glaube gar nicht unbedingt, dass es das Ziel der Türkei ist, erneut in Syrien einzumarschieren.» Die Türkei verfolge eine Strategie der Kriegsführung mit geringer Intensität. «Damit erreichen sie genau das, was sie wollen.»

Maisa Haroun in ihrem Zelt
«Wir hoffen immer, dass es besser wird – aber in den letzten Jahren ist es immer nur schlechter geworden»: Maisa Haroun.

Aufgrund der ständigen Bedrohung sehe sich die Selbstverwaltung gezwungen, die wenigen vorhandenen Ressourcen, die sie vor allem durch Ölförderung generiert, für militärische Zwecke und Verteidigung auszugeben. Die Gelder würden beim Wiederaufbau ziviler Infrastruktur fehlen. Und da Nordostsyrien nicht als eigenständige Region anerkannt sei, gebe es keine Wiederaufbauhilfen der Vereinten Nationen.

Die blauen Schriftzüge an den Häusern, die in arabischen Lettern «Zu verkaufen» verkünden, werden immer mehr. Die Dürre schreitet voran, die Felder trocknen immer weiter aus. Immer mehr Menschen erzählen, sie würden wegziehen, wenn sie es sich nur irgendwie leisten könnten. Menschen, die nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll – wie Maisa Haroun. Sie ist 2019 wie viele andere vor den türkischen Angriffen in Serê Kaniyê geflohen. Dort habe ihre Familie tausend Hektaren Farmland besessen; Bäume seien dort gewachsen, und sie hätten Früchte aller Art geerntet.

Assad wird wieder zum Problem

Inzwischen lebt Haroun im Waschokani Camp; Waschokani ist der kurdische Name für die Region, aus der sie floh. «Ich weiss nicht, was schlimmer ist: der Wind im Winter – oder die Hitze im Sommer», sagt die 43-Jährige. Manche der Zelte im Camp sind zerschlissen. Durch die kleinen Kanäle dazwischen fliesst dreckiges Wasser, das faulig riecht und ölig schimmert. Das Trinkwasser im Camp kommt mit Tanklastern, es schmecke so sehr nach Chlor, dass es kaum zu geniessen sei – oder es sei bitter, erzählt Maisa Haroun, während sie einen kleinen Topf mit Wasser auf den kleinen Ölofen in ihrem Zelt stellt, um die Keime darin abzutöten. In den letzten Jahren habe sie deshalb Nierensteine bekommen. Medikamente, um diese zu behandeln, gebe es im Camp aber nicht. Wenn man sie nach ihrer Zukunft fragt, hat sie keine Antwort parat. «Wir hoffen immer, dass es besser wird – aber in den letzten Jahren ist es immer nur schlechter geworden.»

Während sich die internationalen NGOs vor allem um die Camps mit den IS-Anhänger:innen kümmern, würden die Binnengeflüchteten im Stich gelassen. «Es gibt nicht mal separate Toiletten für Männer und Frauen.» Wie viele im Camp hatte Haroun einst all ihre Hoffnung in die Selbstverwaltung und deren demokratische Ideale gesetzt. Wie viele ist sie enttäuscht worden. Wie so viele gibt sie dafür vor allem einem Mann die Schuld: Recep Tayyip Erdoğan (siehe WOZ Nr. 14/23).

Zelte im Waschokani Camp
Das Trinkwasser im Waschokani Camp ist entweder bitter oder so stark gechlort, dass es fast ungeniessbar ist. Und obwohl sie es abkoche, habe sie davon Nierensteine bekommen, sagt Maisa Haroun, die seit 2019 hier lebt.

Kommandeur Kortay Korkmaz sieht neben dem IS und der Türkei noch eine dritte Gefahr für die Selbstverwaltung: das syrische Regime. In der Vergangenheit gab es kaum Konfrontationen zwischen Selbstverwaltung und syrischer Armee. Vielmehr sind die SDF in ein Machtvakuum gestossen, das das Regime nach seinem Abzug hinterlassen hat. Doch das könnte sich in Zukunft ändern. Das Erdbeben, das Erdoğans Wahlsieg zu gefährden droht, scheint dem syrischen Diktator Baschar al-Assad vor allem Aufwind gegeben zu haben. Die Gespräche über internationale Hilfe nutzte er als Gelegenheit, sich Staaten wie Ägypten und Jordanien sowie den reichen Golfstaaten Saudi-Arabien und Katar, die lange Zeit als Unterstützer der syrischen Opposition im Exil galten, wieder anzunähern.

Gleichzeitig finden seit Ende vergangenen Jahres Gespräche zwischen Vertretern Syriens und der Türkei statt: Im Dezember hatten sich die Verteidigungsminister mit ihrem russischen Amtskollegen in Moskau getroffen, im Januar dann die Aussenminister. Und wäre das Erdbeben nicht gewesen, wäre es vielleicht auch schon zum Treffen der zwei ehemals verfeindeten Autokraten Assad und Erdoğan gekommen. Obwohl sie sich lange Zeit an verschiedenen Fronten gegenüberstanden, verfolgen beide inzwischen ähnliche Interessen in Syrien, die sie bei einer Annäherung realisieren könnten: zum einen die Rückführung der 3,5 Millionen syrischen Geflüchteten aus der Türkei – und zum anderen die Zerschlagung der Selbstverwaltung und die Eingliederung der SDF in die syrische Armee. Das Erdbeben hat die Annäherung der beiden Staaten vorerst aufgehalten. Dass es vor den Wahlen noch zu einem Treffen zwischen Erdoğan und Assad kommt, scheint unwahrscheinlich.

Für viele Menschen in Rojava ist das eine grosse Erleichterung. «Warum, glaubt ihr, ist die türkische Fahne so rot?», fragt Abu Hoger, während er zwischen den weiss marmorierten Gräbern auf dem Märtyrerfriedhof vor den Toren Deriks zum Grab seiner ermordeten Ehefrau schreitet. «Weil sie vom Blut der Kurden und Armenier getränkt wurde.» Die Wahlen in der Türkei sind die einzige Hoffnung, die Angriffe zu stoppen.

Wenige Wochen vor der Wahl sind die Umfragen so eng wie seit Jahren nicht. Erdoğans AKP liegt 9 Prozentpunkt hinter dem Ergebnis von 2018. Der Präsident selbst liegt bei rund 43 Prozent der Stimmen – sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP, der ein Oppositionsbündnis aus sechs Parteien anführt, bei 52 Prozent. Die prokurdische, linksgerichtete HDP ist zwar nicht Teil des Bündnisses, hatte aber zuletzt angekündigt, ihre eigene Kandidatin nicht ins Rennen schicken zu wollen, um Erdoğans «Ein-Mann-Herrschaft» zu beenden.

Letzten Freitag ereignete sich derweil eine weitere Attacke gegen die kurdischen Autonomiegebiete: Im Nordirak wurde der Konvoi des SDF-Führers Maslum Abdi – der sich dort mit Verbündeten im Kampf gegen den IS getroffen haben soll – mit Drohnen angegriffen. Getötet wurde dabei niemand. Irak und die Kurd:innen machen die Türkei für den Angriff verantwortlich.