Restitution: Schepeneses viele Körper

Nr. 47 –

Der Theaterregisseur Milo Rau will die Mumie aus der St. Galler Stiftsbibliothek in ihre Heimat rückführen. Die Forderung wirft interessante Fragen zum historischen Umgang mit dem antiken Leichnam auf.

Milo Rau mit dem symbolischen Totenschiff für Schepenese an einem Umzug in der St. Galler Innenstadt
Zurück in die alte Heimat? Milo Rau mit dem symbolischen Totenschiff für Schepenese in der St. Galler Innenstadt.

Es ist nur ein kleines Spektakel, das der Theaterregisseur Milo Rau am Nachmittag vor der Verleihung des Grossen St. Galler Kulturpreises inszeniert: Ein Heuwagen mit nachgebautem Totenschiff wird durch den St. Galler Klosterbezirk gezogen. Schemenhaft zeichnet sich unter einer Decke eine liegende Gestalt ab, sie vertritt, wenn man so will, den politischen Körper der Schepenese, der nun seinerseits für die Dekolonisierung der Museen stehen soll. In seiner Erklärung fordert Preisträger Rau die «Heimkehr» der mumifizierten Leiche nach Ägypten (siehe WOZ Nr. 46/22) – als ob diese noch lebte.

Seither wird über den angemessenen Umgang mit Schepeneses sterblicher Hülle gestritten. Seit zwei Jahrhunderten wird die Mumie in der Stiftsbibliothek St. Gallen zur Schau gestellt. Eine kleine Ewigkeit. Einbalsamiert, eingesargt und zur Ruhe gesetzt wurde sie aber vor gut zweieinhalb Jahrtausenden – Zeithorizonte, die sich jeder persönlichen Erfahrung entziehen. Geruht indes hat dieser Körper kaum mehr, seit er einer oberägyptischen Nekropole entrissen wurde und 1820 von Alexandria über Paris nach St. Gallen gelangte. Im spätbarocken Prachtsaal – einst Bibliothek, heute Museum – wird er seither in einer gläsernen Vitrine präsentiert. Geschicktes Standortmarketing sorgt dafür, dass sich jährlich weit über 100 000 Besucher:innen die Überreste der berühmtesten Mumie in der Schweiz anschauen.

Nach der Jenseitsvorstellung im Alten Ägypten kehrt nach dem Tod das Leben in den Leichnam zurück. Deshalb wurden die Körper der Verstorbenen – wenigstens jener aus hoher sozialer Stellung – haltbar gemacht. So auch derjenige von Schepenese, die im 7. Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung lebte. Sie gehörte der Machtelite von Theben an, die ihren Reichtum und ihre Privilegien auch durch Sklaverei gemehrt und gesichert hatte.

Aus dem Fieber der Ägyptologie

Nach ihrem Tod mit etwa dreissig Jahren wurde ihr präparierter Leichnam im Totentempel von Hatschepsut beigesetzt, wo sich in schmucklosen Galerien die Särge vieler Generationen der damaligen Priester- und Herrscherklasse stapelten. Von dort, in der Nähe des heutigen Luxor, ist die Mumie unter unbekannten Umständen entfernt worden. Sicher scheint, dass dies nicht im Rahmen vertraglich geregelter archäologischer Grabungen geschah, sondern während des Zerfalls der osmanischen Herrschaft über Ägypten – also unter den kolonialen und kriegerischen Bedingungen des frühen 19. Jahrhunderts.

Die Plünderung ägyptischer Kultstätten begründete den modernen europäischen Kunst- und Antiquitätenmarkt. In diesen Kontext gehört die Einspeisung der Mumie der Schepenese in die westliche Wertschöpfungskette, die ein für die Ewigkeit schlummerndes, sakrales Objekt in einen ökonomischen Wertgegenstand verwandelte. Aber auch in einen Gegenstand des Wissens. Seither umschlingen verschiedene Diskurse dieses von fast durchsichtiger Haut umspannte Knochenbündel. Nicht im Jenseits der Verheissung, sondern im Diesseits der Moderne entsteht dieser Körper neu. Erst wissenschaftlich – und nun auch politisch.

Milo Rau mit dem symbolischen Totenschiff für Schepenese an einem Umzug in der St. Galler Innenstadt
Das symbolische Totenschiff für Schepenese vor dem Kloster in St. Gallen.

Damals, als die Mumie 1820 in St. Gallen eintraf, elektrisierte der napoleonische Feldzug das europäische Bürgertum. Im Fieber der Ägyptomanie wurde das Leichenbündel im Beisein von Naturwissenschaftlern bis zum Brustbereich ausgewickelt, zum ersten Mal untersucht und der Öffentlichkeit präsentiert. Später geriet der noch namenlose, einer weitgehend unbekannten Vergangenheit entzogene Körper in den wissenschaftlichen Sog der Ägyptologie – eines Fachs, das erst im Zuge des fortdauernden Ausplünderns der ägyptischen Kultstätten entstand. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts galt die Mumie als ägyptische Prinzessin, was ihrer Popularität als Ausstellungsstück zuträglich gewesen sein dürfte. Die überaus reichhaltigen Inschriften des Doppelsarkophags konnten erst 1935 übersetzt werden und gaben der Toten ihren Namen – Schepenese.

Zwischen 1996 und 1998 dann untersuchte eine Arbeitsgruppe für klinische Paläopathologie der Universität Zürich die Überreste. Mittels Röntgentechnologie, Computertomografie sowie anthropologischer Verfahren wurde der Körper in allen Details kartografiert und sein Geschlecht als weiblich festgelegt. Zur exakten Datierung untersuchte die ETH Zürich das Holz der beiden Sarkophage mit einer Karbonanalyse.

2012 tauchten überraschend Leinensäckchen auf, die der Mumie nach der zweiten und bisher letzten Auswicklung im Jahr 1994 entnommen und offenbar unterschlagen worden waren – ein bis dahin nicht publik gewordener «Leichenraub». Abseits der öffentlichen Wahrnehmung führte die Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur daraufhin eine Untersuchung durch und stellte fest, dass sich in den Taschen einst Teile der Eingeweide der Schepenese befunden hatten. Als Teil der Bestattungszeremonie waren diese Taschen unter die Leinenbänder auf rituell festgelegte Stellen des Körpers gelegt worden.

Und schliesslich hat die Stiftsbibliothek 2021 eine digital-forensische Rekonstruktion des Gesichts der Schepenese in Auftrag gegeben. Diese wurde von einem internationalen Team von Spezialist:innen in Italien durchgeführt. So erhielt der wissenschaftliche Körper der Schepenese ein Gesicht. Der kürzlich veröffentlichte Forschungsbericht kann im Webshop der Stiftsbibliothek käuflich erworben werden.

Ein neuer Sinnzusammenhang

Der letzte Wunsch der Schepenese ist auf ihrem Sarkophag festgehalten: Sie wünsche sich «ein schönes Begräbnis im Friedhof und Totenreich der Westwüste von Theben». Doch die altägyptische Welt mit ihren Menschen, ihren Vorstellungen und Praktiken, ihren Diskursen und Körpern, ist vergangen. Heute gehört Schepeneses ursprüngliche Ruhestätte zur touristischen Infrastruktur des Landes, in dem eine brutale Militärdiktatur herrscht. In hiesigen Medien kommen bisher vor allem ägyptische Fachleute zu Wort, die wenig Sinn in einer Rückführung der Mumie sehen. Wohin also?

Gegen den Vorwurf, die Präsentation der sterblichen Überreste sei würdelos, wehrte sich Stiftsbibliothekar Cornel Dora an der Medienkonferenz am vergangenen Donnerstag. Jeden Abend, erklärte er, deckten die Angestellten der Stiftsbibliothek den gläsernen Sarg mit einem Tuch ab und wünschten der Mumie «eine gute Nacht». Anders als früher wird der Leichnam heute zudem grösstenteils verhüllt, und eine Absperrung sorgt für eine Armlänge Distanz.

Die Mumie gehöre mittlerweile, so Dora weiter, in den hiesigen Sinnzusammenhang. Doch die Stiftsbibliothek sollte sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass dieser Zusammenhang nicht mehr unwidersprochen ist. Dass womöglich die Zeit gekommen ist, sich von der Mumie zu trennen – wenigstens vom Original, dessen Digitalisat auf einem Universitätsserver gespeichert wird. Es wäre ein Leichtes, mittels eines 3-D-Druckers ein Replikat davon herzustellen – ähnlich wie beim St. Galler «Globus», der von Zürcher Truppen 1712 aus der Stiftsbibliothek gestohlen worden war. Seit 2009 steht eine handgefertigte Kopie in St. Gallen, das Original wird immer noch im Landesmuseum in Zürich gezeigt.

Morgen schon könnte man mit der Mumienreproduktion beginnen. Doch so schnell wird wohl die Macht der Diskurse das zerbrechliche Objekt, das einst der Körper einer Frau namens Schepenese gewesen ist, nicht freigeben.