Ein Traum der Welt: Marxstädter Ansichten

Nr. 48 –

Annette Hug fällt durch die Zeit

Da ist man im neusten ICE quer durch Deutschland gefahren und meint, nicht in Leipzig zu sein, sondern in London. King’s Cross Station. Man wähnt sich in einem «Harry Potter»-Film und hofft auf ein Wunder. Zauberhaft muss sich das richtige Gleis öffnen. Gleis 23. Da wartet Rollmaterial aus einer anderen Zeit. Unverfrorene gelangen im Hotterzug zur Industrie. Der geheime Ort, an dem ich ankomme, hat einmal Karl-Marx-Stadt geheissen, heute heisst er Chemnitz und birgt eine Mumie. Sie ist alles andere als exotisch. In der Teergrube des heimischen Gaswerks ist 1884 ein Arbeiter zu Tode gekommen. In Teerderivate getränkt, ist der Körper samt Arbeitskleidung gut erhalten. Deshalb hat ihn das Institut für Rechtsmedizin dem Industriemuseum ausgeliehen, er illustriert jetzt den Themenbereich «Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz».

Im Frauenzentrum Lila Villa begrüsst mich eine pensionierte Frau Diplomingenieur. Von weiblichen Endungen hält sie nichts, macht sich aber darüber lustig, dass sie in geschäftlicher Korrespondenz mit Zürich früher als «Herr» angeschrieben worden sei. Entschuldigt habe man sich mit der Auskunft, in der Schweiz gebe es unter den Ingenieuren keine Frauen.

In Chemnitz wählen heute über 40 Prozent Rot-Grün, 21 Prozent wählen AfD, und 2018 gingen Tausende in einem völkischen Aufmarsch auf die Strasse. Im riesigen, neu gestalteten Kulturzentrum «Das Tietz» ist alles auf Deutsch, Englisch, Russisch und Arabisch angeschrieben – die Schriftenvielfalt markiert, dass der Ort nicht am Rand liegt, sondern am Übergang zu den Ländern weiter im Osten, und dass hier auch Leute leben, die Geflüchtete willkommen heissen wollen. Zu ihnen gehören die Frauen der Lila Villa. Leserinnen organisieren hier «Irmtraud Morgners Tafelrunde» – da denken sie zweimal im Jahr über das Werk dieser grandiosen Schriftstellerin nach, und ich erfahre, dass die östliche Grenze der damaligen DDR auch ein Übergang in Länder war, in denen man nach dem Zweiten Weltkrieg abtreiben konnte. Ausgerechnet Polen beschwerte sich irgendwann über die vielen deutschen Frauen in seinen Kliniken. Bis 1972 die Volkskammer der DDR eine liberale Fristenlösung beschloss.

Von den Jahren nach der Wende erzählen die älteren Leserinnen in Chemnitz als Schock, denn in den neunziger Jahren wurde ihnen der westdeutsche Paragraf 218 aufgedrückt. Eine Indikationenregelung mit Beratungspflicht. «Wiederbemächtigung der Frauenkörper» nennt das eine Professorin, die sich im kirchlichen Widerstand gegen den kommunistischen Staatsapparat engagiert hatte. Irmtraud Morgner war an ihm fast verzweifelt. Zwar schlug die Schriftstellerin der Zensur einige Schnippchen, aber das kostete unglaublich viel Kraft: einen abgelehnten Roman zerstückeln, neu benennen und ihn dann in Einschüben in einem neuen Werk verstecken, das Ganze in wilder Dialektik als «operative Montage» bezeichnen. In guter Industrietradition.

Ich könne mir nicht vorstellen, wie sie damals gelacht hätten über jene Szene, in der eine französische Trobadora nach 800 Jahren Schlaf Ostberlin erreicht und dem Grenzer sagt, sie wolle in dieses «Land des Wunderbaren». Natürlich sei das ironisch gewesen, sagen die Leserinnen in Chemnitz, aber nicht nur.

Annette Hug ist Autorin und hält Irmtraud Morgners Roman «Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura» für ein herausragendes Werk der literarischen Moderne.