Wichtig zu wissen: Das kranke Schweizerleben
Ruedi Widmer über den Sturm auf Brasilia und den Swisslife-Präsidenten
Die Durchfallgrenze ist auf 35 Meter über Meer gesunken angesichts der Bolsonaristas, die das Regierungsviertel in Brasilia verwüsteten. Vom Internet verwirbelte Hirne auf der Suche nach der «Wahrheit», die sie, wie die Kapitolstürmer:innen von Washington, in Büroschubladen zu finden glauben. Hier sind nicht die Armen am Werk, sondern dank Bolsonaro-Berater Steve Bannon radikalisierte Gutsituierte und Evangelikale, die in ihrer narzisstischen Selbstgerechtigkeit die Welt auseinandernehmen.
Die Schweiz ist nicht weit weg von solchen Geschehnissen. Neben dem Deutschen Bundestag (2020), dem US-Kapitol (2021) und Brasilia (2023) ist das Bundeshaus im September 2021 unter «Ueli, Ueli!»-Erweckungsrufen nur knapp einer ähnlichen Behandlung durch unsere Wutbetuchten und Impfgegner:innen entgangen. Und wie Kevin McCarthys langwierige Wahl zum Speaker der Republikaner:innen gezeigt hat, ist die Blockade durch deren talibaneske Abgeordnete nur ein Vorgeschmack auf künftige sino-irano-russische Einparteienstaaten auch im Westen.
Die von den Rechten in ihrer Media-Blase selbstbefeuerte Wokeness-Welle elektrisiert offensichtlich auch die Geschäftswelt in ihrem als bedroht empfundenen Swisslife. Rolf Dörig, Präsident ebendieser Versicherung, tritt aus Protest gegen «Mainstream» und «Woke-Wahnsinn» der SVP bei (und nicht wegen der Steuersenkpolitik). Er beklagt eine angebliche Sexualisierung von Kindergärtler:innen («Wollt ihr vielleicht doch kein Junge oder Mädchen sein?»); der Wertekanon von Papst Ratzinger schwingt da als Ausweg sogleich mit. Der Applaus der «Blick»-Leser:innen ist ihm sicher, zumindest begrüssen sie in Leser:innenkommentaren den selbstlosen Kampf eines weiteren gutbetuchten Herrenzimmers gegen den «WOK-Irrsinn» und überhaupt gegen die «Wockness» und Ausländer:innen sowieso.
Aus meiner Sicht ist weniger die Wokeness Mainstream als die von Dörig getragene Swissness. Schliesslich ist Swisslife die grösste Versicherung der Schweiz und die Schweizerische Versicherungspartei SwissVP die grösste Partei. Ich trete deswegen zwar keiner linksradikalen Partei bei, aber ich beklage doch ein bisschen den bürgerlichen Zwang, alles zu verswissen, die Swisslife-Swissoil-Swisscom-Swisspass-Schweiz, die Gleichschaltung mit der SwissID, den Mainstreamkult ums «Eidgenössische» (Schwingfest), die Landfrauenküche, die Idée suisse unseres SRF mit ihrer Folklore, die Schlagerskihüttenvolksverkitschung, die Alpenland-Oktoberfest-Lederhoseness. Die Jugend folgt nicht mehr dem angelsächsischen Rock ’n’ Roll, sondern wird von KI-Musikanten wie Andreas Gabalier oder der Trachten-Jodel-Boygroup Heimweh vor der Haustür verführt.
Was will die Jugend noch mit Iggy Pop (neues Album, gerade 75 geworden), das ist so grossväterlich, wie es Ivan Rebroff für mich war.
Der Blick ins Innere, Naheliegende und Kleine, der seit Corona häufiger vorkommt, ist aus umweltschützerischen Gründen ja gut; die Schweiz hat wunderbare Gegenden und interessante Städte mit viel Geschichte, Kultur und Volkskultur für Ferien und Ausflüge, aber der Ersatz der Globalisierung durch die Globisierung führt unter dem Strich eher zu Inzest mit nationaler Selbstüberschätzung, zu einem direkt an Russland gemahnenden Swissski.
Die US-Wokeness enthält tatsächlich manche Ungereimtheit, ist aber in ihrer Ausprägung hierzulande harmlos und schlichtweg kein Problem für Leute, die – so schätze ich Dörig ein – keine rassistischen Sprüche machen oder Menschen ungefragt begrapschen wollen.
Auch das Impfen ist kein Problem, wie die Millionen von coronakranken ungeimpften Chines:innen zeigen.
Wir leben nicht in einer kranken Welt, sondern in zwei kranken Welten, jede Seite in der kranken der jeweils anderen. Der rechten Krankheit Gleichschaltung oder der kerngesunden linken Krankheit Gleichstellung.
Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur. Russenimitator. Rebroff (Hans Rolf Rippert – hallo, kulturelle Aneignung!) war tatsächlich nur sechzehn Jahre älter als Iggy Pop.