Wokeness-Wahn: Im Land der Nebelkerzen
Das Land hat Wahlkampf, dazu braucht es keine ärztliche Diagnose. Zu den auffälligsten Symptomen gehört diesmal, dass die SVP jetzt erklärtermassen auch die AWP sein will: die Anti-Woke-Partei.
Angekündigt hatte sich das bereits im letzten Sommer, als Parteipräsident Marco Chiesa in seiner 1.-August-Rede den Universitäten das Geld für ihren «Gender-Woke-Unsinn» streichen wollte. Der Nächste im Umzug war dann Swiss-Life-Präsident Rolf Dörig, der seinen Beitritt zur SVP in einem Interview im «Blick» unter anderem damit begründete, dass ihn «dieses Mainstream-Woke-Gehabe» störe.
Und nun soll das W-Wort tatsächlich ein eigenes Kapitel im neuen SVP-Parteiprogramm bekommen, wie Programmchefin Esther Friedli ihrerseits in einem grossen Tamedia-Interview publik machen durfte: Die SVP werde systematisch und «auf allen politischen Ebenen» die Auswüchse von «Gender-Terror» und «Woke-Wahnsinn» bekämpfen. Also: gegen den Genderstern, überhaupt gegen Inklusion in amtlicher Sprache, und den Gleichstellungsbüros sollen möglichst die Gelder gestrichen werden.
Man könnte sich jetzt über diese neue Obsession der SVP lustig machen und einen Satz von Rolf Dörig zurück an den Absender schicken: «Als hätten wir nichts Wichtigeres zu tun.» Aber mit ihren Anti-Woke-Parolen darf die SVP nicht nur darauf spekulieren, ihr Reservoir an Wähler:innen in Richtung Mitte zu erweitern, auch im Hinblick auf eine angestrebte Listenverbindung mit der FDP. Sie hat damit vor allem auch eine praktische Nebelkerze für ihre politische Agenda entdeckt – und die Medien als ihre willigen Helfer spielen freudig mit.
Der Kampfbegriff vom «Woke-Wahnsinn» hat tatsächlich eine interessante Blitzkarriere hinter sich: im August noch eine «Blick»-Schlagzeile, jetzt schon ein Kapitel im Parteiprogramm der SVP. Zwar hat auch die NZZ erkannt, dass diese mit ihren kulturkämpferischen Ansagen «reine Wahltaktik» betreibe. Nur ist das seinerseits ziemlich verlogen in einer Zeitung, die sich in diesem Kulturkampf selber an vorderster Front profiliert hat, mit einem wahren Sperrfeuer gegen Genderdiskurs und Wokeness.
Überhaupt haben wir es hier mit einer ersatzpolitischen Hors-sol-Produktion zu tun. Erst importieren die Schweizer Medien den Begriff «woke» arg verkürzt aus dem US-Diskurs, weil sich damit klickträchtig künstliche Debatten bewirtschaften lassen. Und wenn rechte Politiker:innen das Reizwort dann in ihr Grundrepertoire aufgenommen haben, bereiten ihnen dieselben Medien die grosse Bühne, auf der sie nun ihrerseits damit hausieren können. Der Kern ihrer reaktionären Politik tritt dann in den Hintergrund, stattdessen gibts – kritische! – Fragen zu ihrer Sorge vor dem Phantom einer Sprachdiktatur unter dem Genderstern.
Aber wissen sie denn, wovon sie reden? Es klingt vielleicht naiv, aber zu den Voraussetzungen für jeden demokratischen Diskurs gehört ein minimaler sprachlicher Konsens. Da sollte man sich, quasi Vorschlag zur Güte, wieder einmal darauf besinnen, was die Begriffe, mit denen man hantiert, eigentlich bedeuten. Also vernünftigerweise den ganz und gar unverdächtigen Duden konsultieren. Der ist bekanntlich auch keine Sprachpolizei, sondern höchstens so etwas wie eine sprachliche Legislative ohne Weisungsbefugnis.
Nun denn: «Woke», 2021 ins Wörterbuch aufgenommen, bedeutet laut Duden «in hohem Mass politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung».
Nimmt man die SVP also bei ihrem Wort, ist es eben nicht nur Wahltaktik, wenn sie sich jetzt als Anti-Woke-Partei gebärdet. Sondern ein Offenbarungseid: Engagiert gegen Diskriminierung? Nicht mit uns! Oder wie Esther Friedli in besagtem Interview sagte: «In der Schweiz sind wir tolerant, wir sind es gewohnt, auf Minderheiten Rücksicht zu nehmen.» Immerhin eine aufrichtige Definition dieses Landes: Bei uns in der Schweiz diskriminieren wir unsere Minderheiten gewohnheitsmässig total rücksichtsvoll.