Was weiter geschah: Plakat ist nicht gleich Plakat

Nr. 6 –

Im «Kleisterprozess» haben die Staatsanwaltschaft und die Stadt Winterthur als Klägerin eine empfindliche Niederlage erlitten. Ende Januar mussten sich sechs junge Menschen vor dem Basler Strafgericht für eine Plakataktion in Winterthur von 2021 verantworten. Basel-Stadt war zuständig, weil einer der Angeklagten auch in Basel in einem Verfahren steckte. Die Staatsanwaltschaft hatte wegen der Sachbeschädigung Haftstrafen von einem Jahr unbedingt gefordert – das Gericht verhängte allerdings letztlich bloss Geldstrafen über sechzig beziehungsweise vierzig Tagessätze.

Auch die angeblichen Kosten in der Höhe von über 18 000 Franken, die die Stadt Winterthur geltend gemacht hatte, korrigierte Einzelrichter Mehmet Sigirci (SP) deutlich nach unten. Sigirci kritisierte Winterthur für die überrissenen Berechnungen wie auch den Verfolgungsdrang der Staatsanwaltschaft, die schon länger mit verdächtigem Eifer gegen linke Gruppierungen und Aktivist:innen vorgeht. Trotzdem sei es Sachbeschädigung, an einer Hauswand Plakate anzubringen, befand er.

Ob das auch für Organisationen gilt, die mit dem Basler Justizapparat bestens vernetzt sind, bleibt vorderhand offen. Denn just am Tag vor der Urteilseröffnung klebte die rechtskonservative Studentenverbindung Zofingia Plakate an Hauswände und Ladenfassaden, um auf eine Veranstaltung aufmerksam zu machen. Mehrere aktuelle Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft und der Gerichte gehörten einst der reaktionären Verbindung an. Strafverteidiger Andreas Noll, der eine der Angeklagten im Kleisterprozess vertrat, fotografierte in der ganzen Stadt über 130 Plakate der Zofingia.

Vom Vergleich wollte Richter Sigirci aber nichts wissen: Die Zofingia habe schliesslich das Einverständnis der Hausbesitzer:innen eingeholt. Stimmen kann das kaum, das ergaben zumindest Stichproben von Noll.

Sigirci erklärt auf Nachfrage, er habe nur die Einschätzung seines studierenden Gerichtsschreibers wiedergegeben. Relevant für das Winterthurer Verfahren sei die Thematik ohnehin nicht. Interessant wäre es aber allemal herauszufinden, was bei einer Strafanzeige gegen die Zofingia passieren würde. Ob die Basler Staatsanwaltschaft dann auch Haftstrafen fordern würde?

Nachtrag zum Artikel «Repression: ‹Ist das euer Ernst?›» in WOZ Nr. 3/23.