Repression: «Ist das euer Ernst?»

Nr. 3 –

In Basel stehen Ende Januar sechs junge Erwachsene vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft fordert ein Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung – obwohl ihnen bloss vorgeworfen wird, Plakate gekleistert zu haben.

Plakate des Revolutionären Jugendbündnisses Winterthur an einer Plakatsäule
Das Kleistern von 94 Plakaten soll angeblich Kosten von 18 500 Franken verursacht haben: Aktion des Revolutionären Jugendbündnisses Winterthur.

In Crocs, Trainerhosen und ohne Jacken werden sie um fünf Uhr nachmittags schliesslich aus dem Polizeigefängnis in Zürich entlassen. Dies ist im Januar 2021, das Thermometer zeigt bloss drei Grad an. Seit der Verhaftung in Winterthur am Vorabend sind fast zwanzig Stunden vergangen.

«Das war schon fast kafkaesk», sagt Jasmin Burger heute. Burger, die wie die übrigen in diesem Text genannten Beschuldigten eigentlich anders heisst, erzählt Schauergeschichten von der Haft. So habe man sie für mehrere Stunden im Korridor an eine Eisenstange gekettet, weil in der Winterthurer Polizeiwache nicht genug Einzelzellen zur Verfügung gestanden hätten. «Wir wurden behandelt wie Schwerverbrecher:innen», sagt sie. «Als wären wir das Letzte.»

Wut und Angst

Das Delikt, das Jasmin Burger und den anderen fünf Verhafteten vorgeworfen wird, ist eigentlich eine Bagatelle: Sie sollen in Winterthur Plakate gekleistert haben. Zu Beginn des Jahres 2021 wütet in der Schweiz die Coronapandemie. Zwei Tage vor der Aktion hat der Bundesrat entschieden, die Schliessung von Restaurants und Kulturorten zu verlängern. «Uns predigt der Staat Solidarität», heisst es auf einem der Plakate, «gleichzeitig schütten Konzerne weiter Profite an ihre Aktionär:innen aus.» Verantwortlich für die Kleisterkampagne ist das Revolutionäre Jugendbündnis Winterthur (RJBW).

Erst jetzt – ziemlich genau zwei Jahre später – steht der «Kleisterprozess» kurz bevor: Er soll am 30. Januar in Basel abgehalten werden. Die Staatsanwaltschaft beantragt in ihrer Anklageschrift eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten bei einer Probezeit von zwei Jahren. Den sechs Beschuldigten wird für das Kleistern von 94 Plakaten «schwere Sachbeschädigung» vorgeworfen. Er habe erst kaum glauben können, was er in der Anklageschrift gelesen habe, erzählt Marc Weber. «Als ich den Brief öffnete, dachte ich mir: Ist das euer Ernst?»

Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war Weber gerade einmal 21 Jahre alt, drei weitere Beschuldigte sogar noch ein Jahr jünger. Nach der Nacht im Gefängnis sei er zunächst vor allem wütend gewesen, sagt David Schmid, der etwas älter ist. Später habe er angesichts der gravierenden Anklageschrift auch Angst gehabt. «Mittlerweile sind all diese Gefühle aber etwas abgestumpft», so Schmid. «Auch weil wir viel Unterstützung aus der Bewegung und unserem privaten Umfeld erfahren haben.»

Dass zwischen Verhaftung und Prozess so viel Zeit vergangen ist, liegt nicht zuletzt an einer Posse der Strafverfolgungsbehörden: Die Staatsanwaltschaften Winterthur und Basel-Stadt stritten sich ein halbes Jahr lang um die Zuständigkeit. Mit Basel hat der Fall eigentlich gar nichts zu tun – ausser dass dort zum Zeitpunkt der Verhaftung bereits gegen eine der Beschuldigten eine Ermittlung in Gang war.

Das Asbestproblem

Werden gegen eine Person in zwei verschiedenen Kantonen Vorwürfe erhoben, müssen diese zusammengelegt und im selben Kanton untersucht werden. Zuständig ist jener Kanton, in dem das schwerwiegendere Delikt behandelt wird. In diesem Fall war das Basel – wobei die Gerichtsakten, die der WOZ vorliegen, zeigen, dass sich die dortige Staatsanwältin zunächst zu wehren versucht hatte. Schliesslich musste das Bundesstrafgericht die Frage der Zuständigkeit klären.

Dass der Fall jetzt in Basel vor Gericht kommt, dürfte kaum zum Vorteil der Beschuldigten sein. Die dortige Staatsanwaltschaft fällt immer wieder mit hohen Strafforderungen gegen Linke auf – ob bei den «Basel 18», den «Basel Nazifrei»-Demonstrant:innen oder zuletzt den Teilnehmer:innen des feministischen Streiks (siehe WOZ Nr. 48/22). Die jetzige Anklageschrift reiht sich nahtlos in diese Entwicklung ein.

Mitverantwortlich für die Höhe des geforderten Strafmasses ist derweil nicht zuletzt die Stadt Winterthur. Als Geschädigte hat sie die Kosten, die das Kleistern der 94 Plakate verursacht haben soll, mit 18 500 Franken veranschlagt – und damit so hoch, dass der Schaden als «schwer» qualifiziert werden kann. Wieso die Summe so hoch ist? Gemäss Gerichtsakten, weil das Stadtwerk Winterthur mehrere Stromkästen betreibt, die noch immer mit Asbest isoliert sind. Angeblich aus diesem Grund können die Plakate nicht entfernt werden. Das Stadtwerk hat stattdessen Offerten für neue Türen eingeholt – und für die Entfernung von zwölf Plakaten einen Sachschaden von 11 500 Franken veranschlagt. Auf Anfrage schreibt die zuständige Medienstelle, dass man im «Kleisterprozess» Partei sei und sich deshalb nicht dazu äussern könne.

Die Berner Strafverteidigerin Sonja Comte hat den Fall für die WOZ eingeschätzt und hält den Prozess für «erstaunlich». «Dass die Türen der Stromkästen ganz ersetzt werden müssen, war von den Täter:innen kaum beabsichtigt», sagt sie. Wie erwartbar die Höhe eines Schadens für die Täterschaft sei, spiele für ihr Verschulden und folglich auch für die Bemessung des Strafmasses aber eine wichtige Rolle. «Ein Jahr Freiheitsstrafe wird eigentlich nur bei deutlich schwerwiegenderen Delikten gefordert», so die Juristin. Plakate zu kleistern, zähle nicht zu dieser Kategorie. «Es regt zum Nachdenken an, dass sich die Basler Praxis seit einiger Zeit gerade bei politisch motivierten Delikten zu verschärfen scheint», sagt Comte. Die Basler Staatsanwaltschaft teilt auf Anfrage mit, dass sie sich zum laufenden Verfahren nicht äussern könne, bekräftigt aber, stets «unabhängig, ergebnisoffen und der Fairness verpflichtet» vorzugehen.

Gescheiterte Einschüchterung

Marc Weber glaubt, dass es bei der Anklage vor allem darum gehe, die ausserparlamentarische Bewegung einzuschüchtern, die in Winterthur in den letzten Jahren erstarkt sei. Die Repression gegen ihn und seine Mitbeschuldigten sei eine Reaktion darauf, ist er überzeugt. Hinzu komme, dass die Polizei wohl geglaubt habe, erstmals Vertreter:innen des RJBW zu fassen. «Das spielt sicher auch eine wichtige Rolle», sagt Weber. Es gehe darum, revolutionäre Kräfte aus der Politik zu drängen.

Erfolg haben die Behörden damit allerdings nicht. «Wir erfahren eine grosse Solidarität aus der ganzen Schweiz», sagt Weber. Die Angeklagten gehen denn auch in die Offensive – und hoffen, dass der «Kleisterprozess» öffentlich wahrgenommen wird: «Der Fall eignet sich gut dafür, wirksam Kritik an staatlicher Repression zu üben.» Nicht nur gegen die Verhältnismässigkeit der von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafe. Diese sei sowieso eine Farce, findet Weber. Seine Kritik ist deshalb grundsätzlicher Natur: «Wir fordern nicht, dass die Polizei netter wird», sagt er. «Sondern dass sie abgeschafft wird.»

Nachtrag vom 9. Februar 2023 : Plakat ist nicht gleich Plakat

Im «Kleisterprozess» haben die Staatsanwaltschaft und die Stadt Winterthur als Klägerin eine empfindliche Niederlage erlitten. Ende Januar mussten sich sechs junge Menschen vor dem Basler Strafgericht für eine Plakataktion in Winterthur von 2021 verantworten. Basel-Stadt war zuständig, weil einer der Angeklagten auch in Basel in einem Verfahren steckte. Die Staatsanwaltschaft hatte wegen der Sachbeschädigung Haftstrafen von einem Jahr unbedingt gefordert – das Gericht verhängte allerdings letztlich bloss Geldstrafen über sechzig beziehungsweise vierzig Tagessätze.

Auch die angeblichen Kosten in der Höhe von über 18 000 Franken, die die Stadt Winterthur geltend gemacht hatte, korrigierte Einzelrichter Mehmet Sigirci (SP) deutlich nach unten. Sigirci kritisierte Winterthur für die überrissenen Berechnungen wie auch den Verfolgungsdrang der Staatsanwaltschaft, die schon länger mit verdächtigem Eifer gegen linke Gruppierungen und Aktivist:innen vorgeht. Trotzdem sei es Sachbeschädigung, an einer Hauswand Plakate anzubringen, befand er.

Ob das auch für Organisationen gilt, die mit dem Basler Justizapparat bestens vernetzt sind, bleibt vorderhand offen. Denn just am Tag vor der Urteilseröffnung klebte die rechtskonservative Studentenverbindung Zofingia Plakate an Hauswände und Ladenfassaden, um auf eine Veranstaltung aufmerksam zu machen. Mehrere aktuelle Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft und der Gerichte gehörten einst der reaktionären Verbindung an. Strafverteidiger Andreas Noll, der eine der Angeklagten im Kleisterprozess vertrat, fotografierte in der ganzen Stadt über 130 Plakate der Zofingia.

Vom Vergleich wollte Richter Sigirci aber nichts wissen: Die Zofingia habe schliesslich das Einverständnis der Hausbesitzer:innen eingeholt. Stimmen kann das kaum, das ergaben zumindest Stichproben von Noll.

Sigirci erklärt auf Nachfrage, er habe nur die Einschätzung seines studierenden Gerichtsschreibers wiedergegeben. Relevant für das Winterthurer Verfahren sei die Thematik ohnehin nicht. Interessant wäre es aber allemal herauszufinden, was bei einer Strafanzeige gegen die Zofingia passieren würde. Ob die Basler Staatsanwaltschaft dann auch Haftstrafen fordern würde?