Wahlen in Nigeria: Zu jung, um den Kandidaten der Hoffnung zu wählen

Nr. 7 –

Als Nigerias junge Generation 2020 gegen Polizeigewalt protestierte, stellte sich Peter Obi an ihre Seite. Viele Neuwähler:innen wollen ihm deshalb bei der Präsidentschaftswahl am 25. Februar ihre Stimme geben.

Victor Ojobo ist geduldig. Schon vor Stunden ist der 23-Jährige auf den Tafawa Balewa Square gekommen, um auf seinen Favoriten zu warten. Hier, im Zentrum der nigerianischen Küsten- und Wirtschaftsmetropole Lagos, hält Peter Obi seine letzte grosse Wahlkampfveranstaltung ab, bevor am 25. Februar knapp 93,4 Millionen wahlberechtigte Nigerianer:innen ein neues Parlament und eine:n neue:n Präsident:in wählen. Der 61-jährige Obi ist einer von achtzehn Kandidierenden; er hat zwar begrenzte Wahlchancen, gilt aber Millionen junger Nigerianer:innen als Hoffnungsträger.

«Ich bin ein Obidiant», sagt auch Victor Ojobo. Das Wortspiel, mit dem sich die Anhänger:innen zu ihrem Wunschkandidaten bekennen, setzt sich aus Obis Namen und «obedient» zusammen, dem englischen Wort für «folgsam». Ojobo hat ein Baseballcap aufgesetzt, auf dem Obi mit seinem markanten schwarzen Brillengestell an der Seite seines potenziellen Vize, Yusuf Datti Baba-Ahmed, abgebildet ist. In diesem Jahr wird Ojobo, der neben seinem Studium in Friedens- und Konfliktforschung in einem Hotel jobbt, zum ersten Mal in seinem Leben wählen. Und er hat die Hoffnung, dass seine Stimme etwas im bevölkerungsreichsten Land Afrikas verändern wird. «Politiker haben uns bisher so viele falsche Versprechen gemacht und uns enttäuscht», sagt er. «Dabei gibt es so viel zu tun in Nigeria.»

Kenner des Systems

Zum einen ist es die Sicherheitslage, die den Menschen zu schaffen macht. Sie ist so schlecht wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Allein im Bundesstaat Borno im Nordosten des Landes sind mehr als 1,6 Millionen Menschen vor den Terrororganisationen Boko Haram und Islamischer Staat in der Westafrikanischen Provinz (ISWAP) auf der Flucht, im ganzen Land sind es 2,7 Millionen. Es wird geschätzt, dass in Nigeria durchschnittlich zehn Personen pro Tag entführt werden, um Geld zu erpressen.

Zum anderen leiden die rund 220 Millionen Nigerianer:innen unter der aktuellen wirtschaftlichen Lage. Obwohl das Land hinter Angola der zweitgrösste Ölproduzent auf dem Kontinent ist, fliesst aus den Tanksäulen vielerorts oft kein Treibstoff. Und es fehlt sogar an Bargeld. Seit Mitte Dezember gibt die Regierung von Muhammadu Buhari, der nach acht Jahren an der Staatsspitze nicht mehr antreten darf, neue Nairanoten heraus – aber diese sind noch kaum im Umlauf, und auch die alten Scheine sind mittlerweile zur Mangelware geworden. So fehlt Millionen Menschen das Bargeld, um Essen kaufen oder Krankenhausrechnungen bezahlen zu können.

Anhänger der Labour Party unterwegs in Lagos in einem Bus
Anhänger der Labour Party unterwegs in Lagos. Foto: Benson Ibeabuchi , Getty

Obi werde das Chaos eindämmen, so die Hoffnung seiner Anhänger:innen. Er kommt aus der Wirtschaft, war einst der jüngste Vorsitzende der nigerianischen Fidelity Bank. Von 2007 bis 2014 war er zudem Gouverneur im Bundesstaat Anambra. Schon vor vier Jahren kandidierte Obi für ein hohes nationales Amt: Er wollte Vizepräsident werden an der Seite von Atiku Abubakar von der liberal-konservativen People’s Democratic Party (PDP). Atiku, der stets beim Vornamen genannt wird, verlor – und kandidiert nun erneut. Dabei hatte Obi gehofft, von der PDP nominiert zu werden. Als das nicht gelang, nahm ihn im letzten Jahr die bisher eher unbekannte sozialdemokratische Labour Party mit offenen Armen auf. Deren vorgesehener Kandidat, Pat Utomi, trat für Peter Obi sogar zurück.

Nun gelingt es diesem, sich als Kandidat zu präsentieren, der das politische System kennt, darin aber nicht im selben Masse mitspielt, wie es die übrige politische Elite tut. Die «Obidiants» betonen, dass er in seiner Zeit als Gouverneur nicht für Korruptionsskandale sorgte.

Obi wirkt modern und analytisch im Vergleich zu den Kandidaten der beiden grossen Parteien, die das Rennen eigentlich unter sich ausmachen sollten. Atiku, 76 Jahre alt, war von 1999 bis 2007 Vizepräsident; er wurde immer wieder der Korruption beschuldigt. Bola Tinubu, 70-jähriger Spitzenkandidat des regierenden All Progressives Congress (APC), war zur selben Zeit Gouverneur des Bundesstaats Lagos. Der einflussreiche «Pate von Lagos» ist seit Jahrzehnten Nigerias reichster Politiker und hat sorgfältig darauf hingearbeitet, eines Tages Präsident zu werden.

Für Victor Ojobo hat das lange Warten ein Ende, als Peter Obi am Nachmittag die Bühne betritt. Es sind längst nicht so viele Anhänger:innen gekommen, wie sich dessen Wahlkampfteam erhofft hatte. Die Veranstaltung aber passt gut zur anwesenden Zielgruppe: kurze, markige Reden, viel Musik. In einem Land, dessen Bevölkerung durchschnittlich 18,6 Jahre alt ist, spricht Obi Themen an, deren junge Menschen so überdrüssig sind: Hochschulstreiks etwa würden bald der Vergangenheit angehören, wenn sich die Studienzeit nicht länger wegen monatelang ausfallender Vorlesungen hinziehen werde. Und Nigeria müsse auf dem Weltmarkt vom Konsumenten zum Produzenten werden, sagt Obi: Es gehe jetzt darum, Jobs für Millionen junger Menschen zu schaffen, die Jahr für Jahr auf den Arbeitsmarkt drängten.

Auf der richtigen Seite

Sein Gespür für Nigerias junge Bevölkerung hat Obi schon einmal bewiesen. Nämlich gegenüber der Bewegung #EndSars, die ihre Anfänge im Jahr 2017 hatte und im Oktober 2020 landesweit junge Menschen für Massenproteste gegen die Special Anti-Robbery Squad (Sars) mobilisierte, eine 1992 gegründete Sondereinheit der nationalen Polizei. Sie war vor allem für ihre enorme Brutalität bekannt, die sich auch während der Demonstrationen zeigte, bei denen über fünfzig Protestierende getötet wurden. Noch im selben Monat wurde die Sars aufgelöst.

Eromosele Adene, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Eromz, sass damals mehrere Tage in Untersuchungshaft. Der Sänger hatte die Proteste mitorganisiert. Trotz der Brutalität, der Schüsse und des Tränengases sei ihm vor allem eine Erinnerung geblieben: «Die Einheit unter den Jugendlichen», sagt Eromz. «Wir waren eins, unabhängig von Religion, ethnischer Zugehörigkeit und sozialer Klasse. Das ist der Beginn für ein besseres Nigeria.» Die #EndSars-Proteste haben mehr denn je gezeigt, dass die jungen Nigerianer:innen die alten Eliten endgültig satthaben. Und dass sie ihre demografische Macht nutzen und Einfluss nehmen wollen. Mehr als 9,5 Millionen Menschen haben sich für die anstehenden Wahlen neu registrieren lassen. «Das ist das Ende der Wählerapathie. #EndSars war der Weckruf für die Jugend», sagt Eromz voller Zuversicht.

Peter Obi hat die Gewalt gegen die Protestierenden damals von Anfang an verurteilt. Und er lobte den Mut und den Zusammenhalt der jungen Aktivist:innen. Das kommt ihm jetzt zugute: Bekannte #EndSars-Aktivist:innen haben sich seiner Bewegung angeschlossen. Neben Eromz gehört etwa Aisha Yesufu dazu, die auf Twitter 1,6 Millionen Follower:innen hat und dort eifrig für Obi Werbung macht.

Die alten Muster bleiben

Es steht ausser Frage, dass Peter Obi die digitalen Kommunikationsmittel geschickt zu nutzen weiss. Der Kommunikationswissenschaftler Mutiu Iyanda hat etwa errechnet, dass 86 Prozent aller Tweets über Obi positiv ausfallen und dass sein Name von allen Kandidierenden am häufigsten in Suchmaschinen eingegeben wird. «Doch die Realität der nigerianischen Politik ist anders und hat wenig mit dem Internet zu tun», sagt Iyanda. Geprägt wird Nigerias Politik nämlich bis heute in erster Linie von der Zugehörigkeit zu Bevölkerungsgruppen und Konfessionen. Auch wenn mit #EndSars alte Gesetzmässigkeiten ins Wanken geraten sind, bleiben diese grundsätzlich bestehen. Das liegt auch daran, dass das Vertrauen in den Staat gering ist – und der Nepotismus noch immer alle Lebensbereiche durchdringt. «Ich wäre sehr überrascht, wenn Obi die Wahlen gewinnt», so Iyandas Fazit.

Lange bleibt Peter Obi auf dem Tafawa Balewa Square nicht auf der Bühne, und sobald er diese verlassen hat, löst sich die Menschenmenge rasch wieder auf. Victor Ojobo freut sich trotzdem, ihn gesehen zu haben. «Er ist der Mann, der Nigeria glücklich machen wird», sagt er überzeugt. Eines kann Obi tatsächlich gelingen: das eingespielte politische System aus dem Gleichgewicht zu bringen. Um nämlich im ersten Wahlgang gewählt zu werden, muss ein Präsidentschaftskandidat mindestens ein Viertel der Stimmen sowie eine Mehrheit in 24 der 36 Bundesstaaten holen. Als dritter bekannter Kandidat macht Obi dies für die beiden Favoriten äusserst schwierig.