Von oben herab: Teilzeit ist Geilzeit

Nr. 9 –

Stefan Gärtner will das süsse Leben

«Arbeit ist das halbe Leben, und das andere Leben auch», sagt der Volksmund, derselbe, der glaubt: «Unrecht Gut gedeihet nicht», was empirisch nicht eben haltbar ist. Balzac ging ja so weit zu behaupten, jedes grosse Vermögen beruhe auf einem Verbrechen, und es tut mir leid für den Volksmund, aber da neige ich zu Balzac.

Arbeit ist längst nicht mehr das ganze Leben, sondern allenfalls die Hälfte, und sogar die NZZ hats gemerkt und die «Dolce-Vita-Gesellschaft» beklagt, in der alle nur mehr Teilzeit arbeiten wollen, vor allem Eltern, aber nicht nur: «Es gibt in der Schweiz eine steigende Zahl von Personen, die sich auch ohne Familienpflichten eine Vier- oder Dreitagewoche gönnen. Je nach Lohn und Ansprüchen, die man hat, kann man damit ganz gut durchs Leben kommen, seinen Hobbys nachgehen, seine Nerven schonen, seinen Garten pflegen. Wir sind eine freie Gesellschaft und nicht zu einer sozialistischen Arbeitsmoral à la DDR verpflichtet, also was soll’s?» Eben; und was solls, dass die sozialistische Arbeitsmoral à la DDR sich in der Weisheit verdichtete: Freitag ab eins macht jeder seins, und in Witzen Gestalt gewann wie: Sozialismus ist, wenn der Staat so tut, als würde er uns bezahlen, und wir so tun, als würden wir arbeiten?

Nein, was die Katharina Fontana meint, ist, dass in der DDR gearbeitet werden musste, schon wegen der schlechten Produktivität. Die ist in der kapitalistischen, hochtechnisierten Schweiz allerdings hoch, und darum fürchtet die NZZ um die Sekundärtugenden, die lokal eigentlich die primären sind: Fleiss, Einsatzbereitschaft, der unbedingte Wille zur Selbstausbeutung. Denn wenn Marx recht hat und der Mehrwert eine Funktion menschlicher Arbeit ist – nämlich der unbezahlte Anteil daran, den das Kapital einbehält –, dann schmälert Teilzeit diesen Mehrwert, und wenn die NZZ mault: «Für die Gesellschaft ist diese Entwicklung allerdings kein Gewinn», dann kommt es ihr auf das Wort «Gewinn» an, weil die Gesellschaft, die sie meint, wiederum eine Funktion des Gewinns und seines privatwirtschaftlichen Gedeihens ist, ob nun mit mehr Unrecht erwirtschaftet oder weniger.

«Besonders schräg wird es, wenn sich die Gutgebildeten, die Hochqualifizierten, die Akademiker für den Dolce-Vita-Lifestyle entscheiden. Früher ging man davon aus, dass Hochschulabsolventen nach ihrer langen Ausbildung und dem späten Berufseintritt Vollzeit arbeiten und ihren Beitrag über Steuern und Sozialabgaben der Allgemeinheit zurückerstatten – heute ist es gut möglich, dass nicht nur nichts von ihnen zurückkommt, sondern dass sie zum Teil auf die Kosten der anderen ihr Leben führen.» Nämlich auf die Kosten der Berufsleute, die den Schuss nicht gehört haben, wie es ja tröstlich ist, dass die Universitäten noch genug kritischen Geist produzieren, um konservative Bürgerlichkeit auf die Palme zu bringen. Eine Bürgerlichkeit, der die Allgemeinheit immer dann einfällt, wenns um die ureigenen Interessen geht, und für die immer die anderen auf irgendjemandes Kosten leben, niemals man selbst. (Besonders schräg wird es etwa, wenn die «Frankfurter Allgemeine» gegens Gendern ins Feld führt, dass es die Bildungsfernen benachteilige, jene, die die Redaktorin für Schule und Gymnasium sonst als Leistungshemmnis für die Kopfstarken denunziert.)

Wie also wollen wir leben? Jedenfalls nicht in einer Welt, die sich vom ewigen Wachstum mal verabschiedet. «Dank den hohen Löhnen ist es in der Schweiz für Mütter und Väter relativ einfach, die Kinderbetreuung zu organisieren», denn es ist absolut okay, auf Kosten anderer an der «totalen Produktion» (Adorno) teilzuhaben, weil man dann abends zu kaputt ist, um an ihrer Triftigkeit noch zu rütteln. Als wäre diese Kolumne nicht der beste Beweis dafür, dass Teilzeit überhaupt nicht schadet.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.