Von oben herab: Eine Frage der Klasse

Nr. 47 –

Stefan Gärtner über gute Vorschläge von vorvorgestern

Originell ist der Kapitalismus ja eher selten, und kaum hatte die SP unter dem Slogan «Überwindung des Kapitalismus» umfängliche Mitbestimmung, geplante Landwirtschaft, Bankenkontrolle und Stärkung des Service public in Aussicht gestellt, fielen der Schweizer Bourgeoisie viele gute Gründe ein, warum das Unsinn sei: «alte sozialistische Rezepte», «mit Vollgas zurück in die Vergangenheit», «Klassenkampf-Nostalgie», heulte die NZZ, und in der SRF-«Arena» durften die FDP-Chefin Gössi und der neoliberale HSG-Professor Jaeger die Vorschläge gar auf «vorvorgestern» datieren, weil nämlich bloss ein Kapitalismus unter Volldampf Armut beseitigen könne. Ein Theorem, das auch die NZZ parat hatte, wie eh davon überzeugt, «dass sich der ausgebaute Schweizer Sozialstaat nur dank ebendieser Marktwirtschaft finanzieren lässt». Der SP-Kollege Strahm hatte im «Tages-Anzeiger» bereits gestänkert, das Papier sei an den wirklichen Problemen der Werktätigen vorbeigeschrieben: «Damit habt ihr die Diskussion auf eine ideologische Ebene gehoben, sodass ihr nur verlieren könnt. Zieht dieses Papier zurück!» Und auch die sozialdemokratische Winterthurer Stadträtin Yvonne Beutler gab sich als Pragmatikerin und monierte «sehr ideologische Lösungsansätze», während der Stadtzürcher Exstatthalter Hartmuth Attenhofer «den Geist der 60er und 70er Jahre» erkannte: «Wenn ich so etwas lese, schlafen mir die Füsse ein.»

Sehr viel aufregender ist das, was den Damen und Herren Nichtsozialisten zum Thema einfällt, allerdings nicht: Alles Linke ist olle Ideologie und «Klassenkampf», denn nur was der Kapitalismus erwirtschafte, könne man anschliessend verteilen. Da reiht sich eine Lüge (oder sagen wir: Blindheit) an die nächste: Denn der Kapitalismus, der wie zu Olims Zeiten Akkumulation hier und abhängige Beschäftigung da vorsieht, ist ja noch ungemein viel gestriger, weshalb auch niemand zum Klassenkampf rufen muss, den es sowieso immer gibt, wo die Interessen von Besitzenden und Nichtbesitzenden aufeinandertreffen. Ideologisch ist Kapitalismus allerspätestens dann, wenn er sich gegen jede Evidenz als Armutsbeseitiger feiert, und dass er grosszügig den Sozialstaat finanziere, ist ebenfalls geflunkert, weil sich diese Finanzierung jenem marxschen Mehrwert verdankt, der den Lohnabhängigen abgenommen wird. Wie noch der reale Sozialismus vieles sicher nicht war, sozialstaatlich aber ganz bestimmt.

Dass, wie die NZZ bescheidwisserisch mitteilte, die «kleinen Leute» nicht wegen des Wirtschaftssystems, sondern wegen Zuwanderungsfragen SVP wählen, ist wiederum bloss halb wahr, denn auch die Rassen- ist immer eine Klassenfrage, und die Wahrheit, so offensichtlich wie chancenlos, ist die, die Rapper Tommy Vercetti in der «Arena» wusste: «Heute gibt es einen Klassenkampf von oben nach unten. Von euch», nämlich den Neoliberalen und sonstigen Sachwaltern bourgeoiser Interessen, «kommen niemals Vorschläge für eine sozialere Wirtschaftspolitik.» Denn wer hat, der hat und will es behalten: Klassenkampf, da ist er schon.

Beenden lässt er sich grundsätzlich auf zweierlei Weise: durch die Beseitigung der Klassengesellschaft oder die Einrichtung einer Volksgemeinschaft. Dass die kleinen (und grösseren) Leute SVP, Le Pen, Strache oder Trump wählen, sollte also die Jaeger, Beutler, Strahm oder Attenhofer nicht bekümmern: Sie sind, wie unbewusst immer, dafür.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.