Erwachet!: Karma ist feministisch

Nr. 10 –

Michelle Steinbeck über Andrew Tate im Klassenzimmer

Es war die vielleicht beste Nachricht des letzten Jahres: Andrew Tate wurde verhaftet. Wer? Viele haben damals, kurz nach Weihnachten, zum ersten Mal von ihm gehört. Dabei ist der ehemalige Kickboxer einer der am häufigsten gegoogelten Menschen der Welt. Auf Tiktok stellt er den mit Abstand meistgeschauten Content, seine Beiträge haben dort über zwölf Milliarden Views. Das Problem? Der selbsternannte Obergangster und Frauenfeind verspricht, unstabilen Jungen und Männern beizubringen, wie sie «Alpha-Männer» werden. Und das ist weit weniger lustig, als es klingt.

Nicht nur zieht er den aufstrebenden Alpha-Männchen per Schneeballsystem das Geld aus der Tasche und treibt sie im schlimmsten Fall mit Krypto-Investitionstipps in den finanziellen Ruin. Vor allem macht er ihnen vor, dass sie ihren niederen Selbstwert steigern könnten, indem sie sich ebenfalls in frauenverachtende Suprematisten verwandeln. Die genannten Klickzahlen lassen das Gefahrenpotenzial erahnen.

Seit über zwei Monaten sitzen nun Tate, sein Bruder und zwei der Komplizenschaft verdächtigte Frauen in Rumänien in Untersuchungshaft, vorgeworfen wird ihnen Menschenhandel und Vergewaltigung. Wer sich nur ansatzweise mit dem Influencer auseinandergesetzt hat, den wundert das nicht: In Tutorials erklärt er unter anderem sein Loverboy-Geschäftsmodell im Detail und empfiehlt es zur Nachahmung. In seinem Fall bedeutet das, Frauen erst verliebt zu machen, um sie dann dazu zu bringen, für sein Webcamsexbusiness zu arbeiten. Der Engländer zog vor ein paar Jahren nach Rumänien, das Land mit der grössten Webcamsexbranche Europas. Zu seinem Umzug liess er damals verlauten, er möge Osteuropa, weil dort «Korruption viel zugänglicher» sei, ausserdem würden Vergewaltigungsvorwürfe im Vereinigten Königreich für seinen Geschmack zu rigoros verfolgt.

Karma is a sexworker – und Tate für einmal nicht ihr Loverboy. Sein dritter Antrag auf Freilassung wurde kürzlich abgelehnt. Bis Ende Juni können die Brüder in U-Haft gehalten werden, spätestens dann muss der Prozess gegen sie beginnen. Bei einem Schuldspruch drohen bis zu zwanzig Jahre Haft.

Der Schaden jedoch ist angerichtet: In englischen Klassenzimmern hat sich das toxische Gedankengut bereits so merklich verbreitet, dass Eltern und Lehrer:innen Alarm geschlagen haben. Immer mehr Schulbuben berufen sich offen auf ihren Helden Tate und ahmen sein extrem misogynes und chauvinistisches Verhalten nach. Mittlerweile werden im Vereinigten Königreich Kurse für Lehrpersonen angeboten, die über das Phänomen Tate aufklären und Anleitung im Umgang mit radikalisierten Schülern bieten sollen.

Dabei ist Tate zurzeit der erfolgreichste, aber lange nicht der einzige frauen- und queerfeindliche Influencer: Die «Manosphere», wo sich selbsternannte Antifeministen treffen und gegenseitig in ihrer «Männlichkeit» bestärken, hat sich über Internetplattformen längst global und weit über Jungen im Schulalter hinaus ausgebreitet. Einen Lösungsansatz für fehlgeleitete Erwachsene zeigt die grandiose Serie «Fleabag»: Übergriffige Manager müssen dort in eine Reha namens «Better Men», wo sie angekleidete Sexpuppen erst aufs Übelste beschimpfen, um dann behutsam beigebracht zu bekommen, wie sie sich bei ihnen, stellvertretend für alle Frauen in ihrem Umfeld, entschuldigen.

Michelle Steinbeck ist Autorin. Sie empfiehlt die Serie «Fleabag» von Phoebe Waller-Bridge und das Buch «Incels» der deutschen Soziologin Veronika Kracher.