Susanne Kaiser: Wie wichtig ist der Antifeminismus für den Aufstieg der Rechten?
Der männliche Herrschaftsanspruch lässt sich nur überwinden, wenn wir die Geschlechterkategorien auflösen, sagt die Publizistin und Autorin von «Backlash. Die neue Gewalt gegen Frauen».

WOZ: Susanne Kaiser, wo stehen wir gerade?
Susanne Kaiser: Wir erleben einen immensen Backlash, was Frauenrechte und die Rechte von Minderheiten angeht. Spätestens seit der Wiederwahl von Donald Trump werden Frauenrechte extrem schnell zurückgedreht. Das hat ja schon in seiner ersten Amtszeit angefangen. Wir sehen den Backlash aber in allen Bereichen und auch in Europa. Egal ob beim riesigen Thema Frauengesundheit oder der politischen Repräsentation von Frauen, die zum Beispiel in Deutschland gerade abnimmt. Wir erleben auch einen wahnsinnigen Anstieg bei der männlichen Gewalt gegen Partnerinnen oder Expartnerinnen. Das wird ja immer gerne auf Migration geschoben. Dabei handelt es sich um ein globales männliches Phänomen.
WOZ: Sie haben ein Buch über diesen Backlash geschrieben. Ihre Kernthese lautet, dass wir im Gegensatz zu früher, wo das Pendel zwischen feministischem Fortschritt und Rückschritt hin und her geschlagen habe, heute Fortschritt und Rückschritt gleichzeitig erlebten. Sie beschreiben dies als «feministisches Paradox»: Obwohl Frauen immer stärker gleichberechtigt und sichtbar würden, nähmen auf der anderen Seite auch der Antifeminismus und die Gewalt gegen sie zu. Was hat sich da verändert?
Susanne Kaiser: Der Gamechanger war das Internet. Denn durch das Internet haben sich Frauen Rechte und Räume erkämpft wie nie zuvor. Es gab im Netz einfach diese gläsernen Decken nicht. Das haben sich Frauen zunutze gemacht, vor allem natürlich die #MeToo-Bewegung. Diese hat das kollektive Bewusstsein nachhaltig verändert. Wir sind davon weggekommen, sexuelle Belästigung oder Vergewaltigungen als Einzelfälle zu beschreiben. Das sehen wir jetzt auch beim Prozess um Gisèle Pelicot, die ja den berühmten Satz gesagt hat, die Scham müsse die Seite wechseln. Hinter dieses kollektive Bewusstsein werden wir so schnell nicht mehr zurückfallen. Aber auf der anderen Seite hat sich natürlich auch die antifeministische Gegenbewegung das Internet zunutze gemacht. Daraus entsteht dann eben diese Gleichzeitigkeit, also ganz direkt Aktion und Reaktion. Und Männer haben die digitale Macht inne. Techberufe sind immer noch männlich, und wir nutzen in Europa die Dienstleistungen einer Handvoll Milliardäre, die die Regeln machen.
«Gewalt, Hass und Hetze sind keine Meinung, und eine Meinung ist kein Fakt.»
WOZ: Bis vor zehn Jahren war es kaum denkbar, dass ein Mann wie Donald Trump, der sich offen mit sexueller Belästigung brüstet, US-Präsident werden würde. Nun erleben wir seine zweite Amtszeit. Was hat sich da verschoben?
Susanne Kaiser: Trump wurde nicht gewählt, obwohl er sexuell übergriffig war und sich damit gebrüstet hat, sondern gerade auch deswegen. Auch in Europa steigen rechte Parteien wie die AfD nicht auf, obwohl sie so rassistisch und misogyn sind, sondern deswegen. Trump hat von Anfang an viele abgehängte, zurückgelassene Männer abgeholt.
WOZ: Aber Männer sind doch nicht tatsächlich abgehängt und zurückgelassen! Sie empfinden das höchstens so.
Susanne Kaiser: Natürlich gibt es Männer, die faktisch abgehängt sind. Die Incel-Szene besteht ja tatsächlich. Das sind Männer, die wirklich keinen Sex und keine Freundin haben und keine Familien gründen werden. Die Gründe dafür sind freilich andere, als in den Foren behauptet wird. Es geht nicht darum, dass die Männer nicht dem Alpha-Male-Typ entsprechen, den Frauen angeblich wollen.
WOZ: Sondern?
Susanne Kaiser: Es drohen vor allem Teenager in die Incel-Szene abzurutschen, denen es an sozialen Fähigkeiten mangelt. Sie sind vielleicht Gamer, hängen früh in Internetforen rum. Ihr ganzes soziales Leben findet im Netz statt. Damit wirken sie nicht nur auf Frauen unattraktiv, sondern sie haben generell kaum Freundschaften. Der extreme Hass, den viele gegenüber Frauen entwickeln, erklärt sich dadurch, dass sie gleichzeitig glauben, eigentlich einen Anspruch auf weibliche Zuwendung zu haben. Das ist der männlichen Sozialisation im Patriarchat geschuldet. Der US-amerikanische Soziologe Michael Kimmel beschreibt das Phänomen als gekränkte Anspruchshaltung. Incels unterscheiden sich mit ihren Ideen aber nicht so wesentlich von sehr vielen anderen im Patriarchat sozialisierten Männern. Sie sind bloss radikaler.
WOZ: Geht es beim Antifeminismus immer um die gekränkte Anspruchshaltung?
Susanne Kaiser: Der Nährboden für den Backlash und die steigende Gewalt gegen Frauen ist die Tatsache, dass es eine Kluft zwischen der diskursiven Überwindung des Patriarchats und seinem faktischen Fortbestehen gibt. Einerseits ist unsere Welt noch immer zum grössten Teil auf Männer zugeschnitten. Andererseits ist der weisse Hetero-cis-Mann in gesellschaftlichen Debatten nicht mehr die Norm, nach der sich alles richtet. Es ist erstaunlich, wie es der Feminismus mit komplett friedlichen Mitteln geschafft hat, Diskriminierungen und problematische Männlichkeit sichtbar zu machen und das so in den Diskurs zu heben. Für im Patriarchat sozialisierte Männer bedeutet das einen grossen Verlust von Gewissheiten und Privilegien.
WOZ: Und dann kommen «Menfluencer» wie Andrew Tate und versprechen Männern, dass sie wieder richtige Männer sein können?
Susanne Kaiser: Ich glaube, dass sie gerade für junge Männer deshalb so attraktiv sind, weil unsere Gesellschaft extrem ambivalente Erwartungen an diese hat. Einerseits lernen sie früh, dass sie Grenzen einhalten müssen, dass Männlichkeit toxisch sein kann. Man verspricht ihnen dafür andererseits, dass sie alles dürfen: Sie können Rosa mögen, Balletttänzer werden, sich als schwul outen. Das stimmt aber nicht – und hier sind wir wieder beim Unterschied zwischen den diskursiven und den realen Machtverhältnissen. Wie viele Fussballspieler gibt es denn, die sich geoutet haben? Im neoliberalen Kapitalismus hat immer noch der hypermaskuline Macker am meisten Erfolg, Männer wie Jérôme Boateng oder Cristiano Ronaldo. Und dann kommt jemand wie Andrew Tate und sagt: «Ich gebe dir zehn Regeln, wie du ein Alpha-Mann sein kannst, dann wirst du mit allen Privilegien belohnt, die solche Männer in unserer Gesellschaft immer noch haben …»
WOZ: Wie wichtig sind Antifeminismus und Frauenhass für den Aufstieg der internationalen Rechten?
Susanne Kaiser: Sie sind das Entscheidende. Der einzige gemeinsame Nenner aller rechten Bewegungen lautet: Frauen sollen wieder auf den untergeordneten Platz im Patriarchat zurückverwiesen werden. Rechtspopulisten, Rechtsradikale, die Antiabtreibungsbewegung, Evangelikale, katholische Hardliner, «male supremacists» wie Tate – das sind sehr heterogene Gruppierungen, die nicht zusammengefunden hätten, gäbe es nicht diesen einen Kitt. Und jemand wie Donald Trump bedient dann eben all diese Szenen.
WOZ: Die Gewalt gegen Frauen steigt derzeit an. In der Schweiz etwa erleben wir seit Anfang Jahr eine krasse Zunahme an Femiziden. Sie sagen: Der Backlash ist im Schlafzimmer angekommen.
Susanne Kaiser: Was wir derzeit erleben, ist eine Spirale. Die Machtverhältnisse werden zu Hause wiederhergestellt, von da wirkt der Backlash in die Gesellschaft hinein, aus der er sich auf die politische Ebene übersetzt. Und von dort wirkt er wieder zurück ins Schlafzimmer. Ein Teil der Zunahme in der Statistik ist sicher darauf zurückzuführen, dass etwas aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld rückt. Aber ich habe auch mit vielen gesprochen, die mit dem Dunkelfeld zu tun haben. Alle, etwa Anwältinnen oder Mitarbeiterinnen in Frauenhäusern oder von Beratungshotlines, sehen auch da eine riesige Zunahme. Und bei Femiziden ist es halt einfach klar. Eine tote Frau ist eine tote Frau. Es gibt auch Gründe, dass es bei der Polizei seit einigen Jahren mehr Fokus auf Gewalt gegen Frauen gibt. In Deutschland hat sich das Bundeskriminalamt letztes Jahr zum ersten Mal veranlasst gefühlt, ein Lagebild zu veröffentlichen, weil die Zunahme so dramatisch ist.
WOZ: Ihre These ist deprimierend: Wenn mehr Gleichberechtigung und Sichtbarkeit von Frauen tatsächlich zu mehr Gewalt gegen sie führt, dann wäre das doch ein unüberwindbares Dilemma?
Susanne Kaiser: Man könnte es sogar falsch verstehen und denken, dann sollte es eben weniger Feminismus geben. Aber so meine ich es natürlich nicht. Wir müssen stattdessen unbedingt diese Kluft zwischen diskursiv und faktisch überwinden, also faktische Gleichberechtigung herstellen. Und das geht letztlich nur, wenn wir die binäre Geschlechterordnung überwinden und Genderkategorien ihre Aufladung und politische Bedeutung verlieren. Nur in einem binären System, das Männern und Frauen bestimmte Rollen und Eigenschaften zuschreibt, kann es den männlichen Herrschaftsanspruch geben.
WOZ: Aber wie kommen wir dahin?
Susanne Kaiser: Konzepte wie «alternative Männlichkeit» können eine gute Brücke zu dieser Utopie sein. Aber uns muss dabei immer klar sein, dass wir danach woanders hinwollen. Zu verschiedensten Geschlechtskategorien, die vielleicht wie «blond» oder «rothaarig» funktionieren, die also letztlich keine Rolle spielen. Ein wichtiger erster Schritt in diese Richtung wäre es, dass wir endlich die immer noch klare berufliche Segregation auflösen: Wir müssen dafür sorgen, dass sich Frauen auch in Techberufen wohlfühlen und Männer selbstverständlich in allen sozialen Berufen, etwa in Kitas oder in der Pflege, arbeiten. Das Allerwichtigste wäre aber erst einmal, dass wir die sozialen Medien dazu verpflichten, demokratische Regeln einzuhalten. Also: Gewalt, Hass und Hetze sind keine Meinung, und eine Meinung ist kein Fakt.
WOZ: Was stimmt Sie positiv? Können wir uns noch in diese Richtung bewegen?
Susanne Kaiser: Das Schöne an dieser Gleichzeitigkeit von Bewegung und Gegenbewegung ist, dass die ja voneinander abhängen. Das kann man auch positiv wenden. Der Feminismus ist so erfolgreich, dass er eine derart heftige Gegenbewegung hervorgebracht hat. Und wenn wir uns Filmproduktion, Bücher und so weiter ansehen, sehen wir, dass er immer noch da ist. Gerade schauen sich zum Beispiel Millionen die Serie «Adolescence» an, in der es um einen Jungen geht, der sich in Incel-Foren radikalisierte. Ich finde, das muss Feminist:innen noch viel klarer werden, damit man das als Energiereserve anzapfen kann. Und man muss sich vielleicht ein Vorbild nehmen an der antifeministischen Bewegung und auch in der Linken zugunsten eines gemeinsamen Ziels die vielen Grabenkämpfe überwinden.
WOZ: Und was wäre dann auf dieser Seite der Kitt?
Susanne Kaiser: Gleichheit, würde ich sagen. Der Unterschied zwischen rechts und links, zwischen antifeministisch und feministisch ist: Die einen wollen Hierarchien und Ausbeutung, die anderen wollen Gleichheit. Dieser Gleichheitsgedanke, das ist doch eine wahnsinnig wirkmächtige Kraft. Und ein starker, viel schönerer Kitt.
Susanne Kaiser (45) ist eine deutsche Journalistin, Literaturwissenschaftlerin und Sachbuchautorin. 2023 erschien ihr Buch «Backlash. Die neue Gewalt gegen Frauen» und kürzlich der feministische Krimi «Riot Girl».