Durch den Monat mit Veronika Kracher (Teil 1): Worüber tauschen sich Incels aus?

Nr. 40 –

Die deutsche Journalistin und Buchautorin Veronika Kracher hat jahrelang über den Onlinekult der Incels recherchiert: «Unfreiwillig zölibatär» lebende Männer, die Frauen hassen. Manche werden zu Massenmördern.

Veronika Kracher: «Gerade ist ein Konzept, das sich ‹Mewing› nennt, gross im Trend. Dabei geht es darum, durch Kauübungen den Kiefer männlicher zu machen.»

WOZ: Veronika Kracher, Sie haben sich für Ihr Buch durch unzählige Forenbeiträge junger Männer gewühlt, die sich vom Feminismus geknechtet fühlen und schon mal davon fantasieren, sich eine Kindfrau als Sexsklavin zu halten. Schlägt das auf die Dauer nicht aufs Gemüt?
Veronika Kracher: Doch, man merkt schon, wie man abstumpft. Vor ein paar Tagen habe ich mit meinem Freund einen Film über den Holocaust gesehen – und während ihm das sehr nahe ging, habe ich an mir festgestellt, dass mich der Film weniger berührt hat, als er es wohl noch vor zwei Jahren getan hätte. Das ist schon erschreckend, wie sehr man sich offensichtlich emotional zurichten muss, um diese Arbeit zu machen.

Haben Sie bestimmte Techniken angewandt, um die eigene Psyche zu schützen?
Ich hatte lange wenig Respekt vor den eigenen Grenzen. Es kann also schon mal passieren, dass ich den ganzen Tag recherchiere, wenn ich unbedingt ein Kapitel fertig schreiben will. Grundsätzlich versuche ich aber, das zu dosieren. Ausserdem habe ich mit meiner Psychoanalytikerin über mein Projekt gesprochen. Zudem hilft es, sich mit anderen Leuten auszutauschen, die zu dem Thema arbeiten.

Wissen Sie noch, wann Sie das erste Mal von Incels gehört haben?
Das war beim von Elliot Rodger begangenen Attentat 2014, als dieser in Santa Barbara sechs Menschen ermordet hat. Das nächste Mal dann beim Attentat von Alek Minassian in Toronto 2018: Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich bereits mit den Alt-Right, 4chan und der Rolle von Männlichkeit in diesen Kontexten beschäftigt – und begann dann, mich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Was ist denn 4chan?
4chan ist ein Internetforum – oder genauer ein sogenanntes Imageboard –, das Anfang der nuller Jahre gegründet wurde. Zu Beginn ging es da vor allem um «Free Speech», also um freie Meinungsäusserung. Bei einem Imageboard postet jemand ein Bild und schreibt etwas dazu, andere können das dann kommentieren. Es gibt Unterforen zu unterschiedlichen Themen wie Videospielen oder Animes. Eigentlich könnte das ein ganz normales Forum sein, würde nicht dieses Free-Speech-Ding Leute anziehen, die etwa das N-Wort sagen wollen, ohne dafür als Rassisten kritisiert zu werden.

4chan ist also ein Tummelplatz für Menschen, die die Sau rauslassen wollen?
Ich habe es in einem Artikel mal polemisch als virtuelles Jungszimmer beschrieben, zu dem Mädchen keinen Zutritt haben und das nach vollgewichsten Socken riecht – das trifft es. Jedenfalls wurde dieses Forum seit der Präsidentschaftskampagne von Donald Trump zunehmend rechts. Hier wurde etwa der rechte «Memetic Warfare» entwickelt, also Propagandakampagnen mithilfe von Internetmemes. Ausserdem spielte «Gamergate» eine grosse Rolle, eine frauenfeindliche Hetzkampagne in der Gaming-Community.

Worüber tauschen sich Incels in solchen Foren aus?
In einem Unterforum von 4chan tauschen sich vor allem Incels aus, die Probleme haben, eine Beziehung zu finden. Das muss nicht per se frauenfeindlich sein, ist es hier leider aber. Dann gibt es verschiedene andere Internetforen, wo es eher darum geht, wie man der eigenen vermeintlichen Hässlichkeit durch Selbstoptimierung abhelfen kann, also durch Sport, Schönheitsoperationen, Dehnübungen. Das nennt sich dann «Looksmaxxing».

Incels empfehlen sich gegenseitig Schönheitsoperationen?
Ja. Gerade ist ein Konzept, das sich «Mewing» nennt, gross im Trend. Dabei geht es darum, durch Kauübungen den Kiefer männlicher zu machen. Dann gibt es noch Incels, die sagen: Das ist eh alles vergebliche Liebesmüh, du wirst nie attraktiver werden. Und schliesslich sind da noch die gemässigteren Incels, die «Incels without hate». Aber man stösst auch bei denen auf antifeministische Talkingpoints: Die «Incels without hate» glauben ebenfalls, dass Feminismus ganz schlimm sei. Aber die wollen Frauen immerhin keine Gewalt antun.

Sie schreiben, dass es auch weibliche Incels gibt, die «Femcels», und schwule Incels, sogenannte «Gaycels».
Ja, wobei die Gaycels schon sehr marginal sind. Was die Femcels angeht: Natürlich können auch Frauen menschenfeindliche Positionen vertreten. Bei den Femcels steht aber das Selbstmitleid im Vordergrund, also dass man sich selbst für zu unattraktiv hält. Es wird zwar auch abfällig über Männer gesprochen, der Unterschied ist allerdings, dass Frauen aufgrund der permanenten Erfahrung patriarchaler Gewalt ja tatsächlich gute Gründe haben, Männer zu hassen. Dazu kommt, dass Männern in ihrer Sozialisation vermittelt wird, Gewalt sei eine legitime Reaktion auf erfahrenes Unrecht. Incels fühlen sich als Opfer, weil Frauen nicht mit ihnen schlafen wollen. So wird die Gewalttat ein Mittel, um vermeintliches Unrecht zu rächen und die gekränkte Männlichkeit wiederherzustellen. Das ist etwas, das in der weiblichen Sozialisation so nicht zu finden ist.

Veronika Krachers Buch «Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults» erscheint Anfang November im Ventil-Verlag. In der nächsten Folge erläutert sie den Incel-Jargon, der eine ganze Reihe kurioser Begriffe umfasst.