Inklusionspolitik: «Ich will die Behinderten­revolution»

Nr. 13 –

Der Zürcher Gemeinderat und Aktivist Islam Alijaj lebt seit Geburt mit einer Zerebralparese. Er hat sich die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zur Lebensaufgabe gemacht.

Portraitfoto von Islam Alijaj
Die Behindertensession sei ein wichtiges Signal, doch es fehle ihr an Verbindlichkeit und Durchschlagskraft, sagt Islam Alijaj.

Inmitten der Menschenmenge, umschwärmt von Journalist:innen und Gästen, bewegt sich Islam Alijaj auf seinem elektrischen Rollstuhl durch die Wandelhalle des Bundeshauses. Ein Interview hier, ein lockeres Gespräch da, ein Foto wenige Radumdrehungen später – in einer Kadenz, die selbst einem gestandenen Nationalrat den Schweiss auf die Stirn treiben würde. Der SP-Politiker wird von den Medien förmlich überrannt, von der eigenen Partei umgarnt, und die Erwähnung seines Namens führt auf der Zuschauer:innentribüne des Nationalratssaals zu anerkennendem Raunen – zumindest an diesem Freitagnachmittag, an der ersten Behindertensession der Schweiz.

44 Teilnehmer:innen, in einem Onlinevoting auf der Pro-Infirmis-Website aus 200 Kandidat:innen gewählt und die vier Landessprachen vertretend, versammelten sich zur Session im Bundeshaus. Organisiert wurde sie durch den Behindertenverband Pro Infirmis, auf Einladung von Nationalratspräsident Martin Candinas und Mitte-Nationalrat Christian Lohr – wohlgemerkt der einzige Politiker mit Behinderung im nationalen Parlament. Über drei Stunden verhandelten die Teilnehmenden eine Resolution, die Sessionspräsident Lohr am Ende Nationalratspräsident Candinas sowie Ständeratspräsidentin Brigitte Häberli-Koller überreichte. Die Hauptforderung: mehr politische Teilnahme für Menschen mit Behinderungen. In die Pflicht nahmen die Sessionsteilnehmer:innen dabei auch die Parteien: Der erste Schritt sei eine gute Vertretung von Menschen mit Behinderungen auf den Wahllisten auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene.

Jetzt, nicht in dreissig Jahren

Auch der 36-jährige Alijaj wurde an die Session gewählt. Bei seiner Geburt hat der Zürcher zu wenig Sauerstoff erhalten. Das führte zu einer Zerebralparese, er hat wenig Kontrolle über seine Muskeln und Mühe, zu sprechen. Die Behinderung prägte Alijajs Jugend. «Ich wurde immer unterschätzt», sagt er. «Aufgrund meiner Aussprache hatten viele das Gefühl, ich sei ‹geistig behindert›.» Ein Vorurteil, dem er heute mit viel Aufwand entgegentritt: «Wenn ich einen Raum betrete, muss ich sofort Präsenz zeigen.» Denn täte er dies nicht, würde er schnell zur Seite gedrängt.

Der SP-Politiker wurde innerhalb weniger Monate und etwas unverhofft zu einem Shootingstar des Behindertenaktivismus. Nach einer erfolglosen Nationalratskandidatur vor vier Jahren wurde er Anfang 2022 in den Zürcher Gemeinderat gewählt. Der zweifache Vater schaffte die Wahl trotz der Zerebralparese, des neunten Listenplatzes und eines Namens, der in der Schweiz nur schon für die Wohnungssuche eine Hypothek darstellt. Für ihn selbst war sie der Beweis für seinen Leitsatz: «Die Stimmbevölkerung wählt uns, wenn sie das entsprechende Angebot erhält.»

Alijaj sieht die Behindertensession als wichtiges Signal. Doch er sagt auch: «Der Veranstaltung fehlt etwas die Verbindlichkeit und Durchschlagskraft.» Dass die Resolution am Ende tatsächlich etwas im nationalen Parlament bewegen wird, bezweifelt er. Und er fügt an: «Wir wollen jetzt in die Politik, nicht erst in dreissig Jahren. Ich selbst wäre dann ein alter Mann. Von denen gibt es im Parlament bereits genug.»

Auch aus dem Umfeld kleinerer Behindertenorganisationen war durchaus Kritik an der Session zu vernehmen. Von den Wahlen über das Marketing bis zum Livestream: Alles lief über Pro Infirmis, den Koloss unter den privaten Hilfsorganisationen. Der Nationalratspräsident, gleichzeitig auch Präsident der Pro Infirmis Graubünden, erwähnte den Verein in seiner Eröffnungsrede mehrfach. Auf den Tischen, Stühlen und Bänken der Wandelhalle lag eine schier endlose Menge an türkisen Flyern mit Spendenaufrufen. Alles nur ein Marketinggag? «Ich hoffe und glaube, dass die Absicht hinter der Session grösser war, als Spenden zu sammeln», sagt Alijaj. Für die Ausrichtung der nächsten Ausgabe fordert er jedoch einen Trägerverein statt einer einzelnen privaten Organisation. Zudem solle die zweite Session unbedingt länger dauern als einen halben Tag. Und politischer solle sie auch werden: mit Parteivertretungen, Debatten und verschiedenen Kommissionen.

Es sei ein «historischer Tag», hört man während des Anlasses dennoch immer wieder. Alijaj selbst erlebt gar ein «historisches Jahr». Die Session sei nur der Startschuss, sagt er. Im Herbst wird der Politiker erneut für den Nationalrat kandidieren. In einem Monat beginnt zudem die Sammelphase für die erste Volksinitiative, die durch Menschen mit Behinderungen getragen werden soll. Alijaj ist mit seinem Verein Tatkraft Mitinitiant. Mit der Inklusionsinitiative will er erreichen, dass Menschen mit Behinderungen mittels freier Wohnungswahl und verbessertem Zugang zu Assistenzleistungen mehr Teilhabe an der Gesellschaft erhalten. Auch Alijaj ist auf Unterstützung angewiesen – ob beim Verfassen von Mails und Vorstössen oder um seine gesprochenen Worte deutlicher auszuformulieren.

«Die Initiative ist auch für das Verhältnis innerhalb der Behindertenorganisationen wichtig», sagt er. «Oft pflegt jede Organisation ihr eigenes Gärtchen.» Das Konkurrenzdenken werde durch die Millionenbeiträge befeuert, die das Bundesamt für Sozialversicherungen jährlich ausschütte. «Synergien werden also selten genutzt», sagt Alijaj. Es sei sein erklärtes Ziel, dass die Organisationen mehr am selben Strick zögen. Zumindest bei der Inklusionsinitiative hat er das erreicht: Die beiden grossen Dachverbände Agile und Inclusion Handicap tragen sie gemeinsam.

«Wir müssen Vorbilder entwickeln»

Zum Politiker wurde Alijaj nach dem KV-Abschluss. Er wollte studieren – angeboten wurde ihm von IV und Arbeitgeber aber eine geschützte Arbeitsstelle. «Wir Behinderten sind oft nur ein Mittel, um abzukassieren», sagt er. Er kritisiert den starken Einfluss der Heimlobby sowie fehlende Möglichkeiten für Lohnarbeit und Altersvorsorge. Der zweite Arbeitsmarkt bleibe für viele Menschen mit Behinderungen die einzige Möglichkeit. Und dort fehle es an gewerkschaftlicher Organisierung. «Ich will die Behindertenrevolution», sagt Alijaj. Dafür will er bis ans Limit gehen, auch wenn er dadurch Therapiestunden auslasse. «Ich habe mich für einen gesunden Kopf statt einen gesunden Körper entschieden», sagt er. Und bezeichnet sich scherzhaft als Robin Hood. In seinen Aussagen steckt meist viel Schalk, der aber nie von der Ernsthaftigkeit seiner Anliegen ablenkt. «Wir müssen Vorbilder entwickeln», sagt er. «Ich versuche, eines zu sein.» Auf die Frage, wer denn sein Vorbild war, folgt die Antwort prompt und mit einem Lachen: «Ich selbst.»

Dann muss Alijaj weiter. Der nächste Journalist erkundigt sich, ob er auch für ihn noch ein paar Minuten Zeit habe. Alijaj ist anzusehen, dass er die Aufmerksamkeit geniesst. Der ganze Medienrummel sei zwar anstrengend, sagt er mit einem Lächeln, aber sicher nie zu viel.