Behindertengleichstellung: Noch ist die Schweiz voller Hürden
Seit 2004 regelt ein Gesetz die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Doch noch immer sind längst nicht alle Voraussetzungen dafür geschaffen. Nun soll es erstmals nachgebessert werden.
Rund 1,8 Millionen Menschen, ein Fünftel der hiesigen Bevölkerung, leben mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Gemäss einem Artikel, den die Stimmberechtigten im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung im April 1999 angenommen haben, darf niemand deswegen diskriminiert werden. Und der Bund muss «Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten» vorsehen.
Das zur Umsetzung dieser Massnahmen 2004 in Kraft getretene Benachteiligungsverbot im Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) gilt für öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen, Wohnbauten mit mehr als acht Wohneinheiten, Gebäude mit mehr als fünfzig Arbeitsplätzen, öffentlich-rechtliche Arbeitsverhältnisse, Dienstleistungen des Bundes, konzessionierte Unternehmen, für die Aus- und Weiterbildung sowie den öffentlichen Verkehr. Gerade bei Letzterem zeigt sich: Auch über zwanzig Jahre nach Inkrafttreten ist das Gesetz nicht hinreichend umgesetzt. So waren im November 2023 – zwei Monate vor Ablauf der gesetzlichen Frist – erst sechzig Prozent der Bahnhöfe barrierefrei, bei den Bus- und Tramhaltestellen gar erst ein Drittel (siehe WOZ Nr. 46/23).
Doch auch bei der Arbeit, beim Wohnen, dem Ausüben politischer Rechte und bei lebenswichtigen Dienstleistungen sind Menschen mit Behinderungen weiterhin stark benachteiligt – obwohl sich die Schweiz mit dem Beitritt zur Uno-Behindertenrechtskonvention vor zehn Jahren auch dazu verpflichtet hat, sie vor Diskriminierungen zu schützen.
Fehlende Assistenzbeiträge
Der vor einem Jahr in die Vernehmlassung geschickte Vorentwurf des Bundesrats zur Teilrevision des BehiG sah immerhin vor, dass auch private Betriebe und Dienstleister verpflichtet werden, entsprechende Massnahmen umzusetzen. Zudem sollen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es Menschen mit Behinderungen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Den Behindertenverbänden ist das jedoch deutlich zu wenig konkret. Sie reagierten mit scharfer Kritik auf das mit Hoffnung erwartete Revisionsprojekt. Der BehiG-Vorentwurf greife zu kurz und lasse zentrale Anliegen der inzwischen zustande gekommenen Inklusionsinitiative unbeachtet, so die Kritik. Deren Forderung etwa nach der freien Wahl von Wohnort und Wohnform liegt darin begründet, dass die Mittel für ausreichend bezahlbares und hindernisfreies, selbstbestimmtes Wohnen noch immer fehlen, da viele Unterstützungsgelder nach wie vor an Heimplätze gebunden sind. Die Ausweitung der Beiträge durch die Invalidenversicherung (IV) für personelle Assistenzen und technische Hilfsmittel wiederum sei zwingend nötig, damit sich auch Menschen mit Behinderungen so selbstbestimmt wie möglich in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur einbringen könnten.
Geraubte Lebenszeit im ÖV
Gemäss Gesetz müsste der öffentliche Verkehr in der Schweiz seit Anfang 2024 vollumfänglich barrierefrei sein. Laut Angaben des Bundesamts für Verkehr waren Ende 2023 aber immer noch bei über 600 der rund 1800 anzupassenden Bahnhöfe, Bus- und Tramhaltestellen die Vorgaben nicht erfüllt.
Nun verzögert sich die Anpassung der Infrastruktur gar weiter: Im September hat der Nationalrat die Aufstockung der Mittel für bereits baubereite Projekte in der Periode 2025–2028 abgelehnt. Allein bei den SBB können dadurch siebzehn Projekte nicht in dieser Zeit realisiert werden. Derzeit kann an rund 250 SBB-Bahnhöfen noch immer nicht stufenlos gereist werden. Viele Menschen werden somit weiterhin gezwungen sein, einen bedeutenden Teil ihrer Lebenszeit mit zeitraubenden Umwegen, Warten und Organisieren zu verbringen.
Inclusion Handicap fordert im Rahmen der BehiG-Revision eine neue Frist bis maximal 2030, verbindliche Zwischenziele, eine griffige Kontrolle sowie eine zweckgebundene Bereitstellung der benötigten Mittel.
Bislang ist das nicht gewährleistet. So etwa kann sich eine Person mit Sprechbehinderung oft noch immer nicht die benötigte Verbalassistenz leisten, um einer Arbeit nachzugehen. Eine gehörlose Person wiederum, die sich politisch engagieren möchte, kann nicht darauf zählen, von einer Gebärdensprachdolmetscher:in unterstützt zu werden. Selbst politische und öffentliche Informationen zur Meinungsbildung werden oft nicht in Gebärdensprache übersetzt. Auch für Menschen mit einer kognitiven oder psychischen Behinderung, die sich gesellschaftlich oder beruflich engagieren möchten, gibt es bisher – ausser für Bezüger:innen einer Hilflosenentschädigung – keine Assistenzbeiträge.
Der Druck der Inklusionsinitiative hat nun immerhin dazu geführt, dass der Bundesrat im Dezember einen indirekten Gegenvorschlag in Form eines Inklusionsrahmengesetzes und Massnahmen in der IV ankündigte. Damit will er Forderungen beim Wohnen und bei Assistenzleistungen aufnehmen. Zudem hat er beim Entwurf fürs BehiG nachgebessert.
Fehlende Sprachfördermassnahmen
Damit und mit dem in Aussicht gestellten Verzicht auf eine Regelung, die nur absichtliche und persönlichkeitsverletzende Benachteiligungen als Diskriminierungen versteht, würde der Diskriminierungsschutz von Menschen mit Behinderungen tatsächlich gestärkt, attestiert Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen. Das Gesetz komme damit den Verpflichtungen näher, die die Schweiz mit der Ratifizierung der Uno-Behindertenrechtskonvention eingegangen sei. Doch auch im verbesserten Entwurf gibt es weiterhin Lücken: «Die Anerkennung der Gebärdensprachen ist nach wie vor zu wenig verbindlich», sagt Jonas Gerber, Kommunikationsverantwortlicher von Inclusion Handicap. «So fehlen zum Beispiel konkrete Sprachfördermassnahmen.»
Das grösste Manko sieht der Dachverband im öffentlichen Verkehr. Obwohl Ende 2023 die im BehiG festgelegte Frist für die Umsetzung der Barrierefreiheit im ÖV abgelaufen ist, findet sich im Gesetzesentwurf keine neue Regelung. «Hier braucht es im BehiG eine neue Frist», sagt Gerber. Um die weiterhin bestehenden Missstände anzugehen, habe der Dachverband zudem bei Verkehrsminister Albert Rösti einen runden Tisch und die Bildung einer Taskforce mit Vertreter:innen von Bund, Kantonen und Gemeinden, der ÖV-Branche sowie Selbstvertreter:innen und Behindertenverbänden eingefordert (vgl. «Geraubte Lebenszeit im ÖV»).
Die Teilrevision des BehiG geht nun ins Parlament. Bis Ende Mai soll zudem die Vernehmlassungsvorlage zu einem Inklusionsrahmengesetz und Massnahmen der IV bezüglich Assistenz und Hilfsmittel als Gegenvorschlag zur Inklusionsinitiative vorliegen. Ob diese zurückgezogen wird, hängt laut Islam Alijaj, SP-Nationalrat und Vorstandsmitglied des Vereins für eine inklusive Schweiz, nicht zuletzt von der Ausgestaltung und der Finanzierung des Assistenzbeitrags ab. Entscheidend werde dabei sein, inwieweit Menschen mit Behinderungen in den laufenden Prozess einbezogen würden: «Leider wurde das in der Vergangenheit häufig vernachlässigt», so Alijaj.
Klar sei, dass die Inklusionsinitiative weiterhin essenziell bleibe: «Die Behindertenrevolution ist noch nicht am Ziel, aber sie kommt voran.»