Literatur: Der Distelsaft steht parat

Nr. 14 –

Buchcover von «Was suchst du, Wolf?»
Eva Viežnaviec: «Was suchst du, Wolf?». Roman. Aus dem Belarusischen von Tina Wünschmann. Zsolnay Verlag. Wien 2023. 142 Seiten. 34 Franken. Eva Viežnaviec ist am 12. April gemeinsam mit Lana Bastašić und Volha Hapeyeva im Literaturhaus Zürich zu Gast.

«Wenn du in der öffentlichen Toilette den Korken der Weinflasche mit dem Schlüssel eindrückst und ihn dann ableckst, damit kein Tropfen verloren geht, brauchst du dich vor nichts mehr zu fürchten.» Mit diesem Satz beginnt Eva Viežnaviecs Erzählung, die Ryna zurück in ihr belarusisches Heimatdorf im sumpfigen Nirgendwo führt. Die Grossmutter ist gestorben, für Ryna war sie alles, den allermeisten in den Dörfern der Region galt die alte Daroschka als Hexe und Heilerin. Nur deshalb hat sie überlebt.

Und bevor wir uns versehen, blicken wir mit Ryna aus ihrem Kopf auf die bäuerliche Umgebung der Vergangenheit, glauben vielleicht erst noch, darin Ähnlichkeiten mit wunderlichen Erzählungen aus entlegenen Tälern und Bergwelten der Schweiz zu erkennen. Bis wir uns mitten in einer Hölle wiederfinden, aus der es für die Einheimischen kein Entkommen gab: Zweimal kamen die Deutschen, dazwischen wüteten Stalins Schergen und die Partisanen, manch einer diente sich da erst den einen und dann den andern an, doch letztlich vermochten nur die wenigsten ihre Haut zu retten, und immer, immer gings zuallererst gegen die jüdische Bevölkerung. Wer im Wald von Kaszjukowitschi erschossen wurde, hatte vielleicht nicht einmal das schlimmste Los erwischt. Wenn die Daroschka, die ihre Enkelin so zärtlich «mein Täubchen» nennt, selbst bestialische Gräueltaten mit chirurgischer Plastizität schildert, ist das nur schwer auszuhalten.

Das «Mörderblut» fliesst in allen, auch in den Adern der Daroschka, sie versucht, es gerechter einzusetzen, hilft einem Juden, hilft den Frauen, auch die Männer der Umgebung, die verstümmeln und vergewaltigen, macht sie wieder gesund, der Distelsaft steht parat, und ihr Wissen macht sie zur Unberührbaren. «Es ist nicht unsere Sache, wer Recht hat und wer Schuld trägt», sagt sie ihrer Enkelin einmal. «Misch dich nirgends ein, diene keinem, glaube niemandem. Nichts hält sich hier lange, nichts.» Auch der einst blühende Torfmorast ist jetzt «leer, stumm und blind». Wer könnte es Ryna vergelten, dass sie zur Trinkerin geworden ist?  Franziska Meister