Literatur: Das Schweigen der Mütter

Nr. 35 –

Wie Schwangerschaften die Biografien von Frauen prägen: Anna Neata stellt in ihrem Debüt «Packerl» drei Frauen einer Familie im Österreich der Nachkriegszeit bis heute ins Zentrum.

Elli steht vor dem Schaufenster des Kleiderladens Halmisch. Sie betrachtet sich im Spiegel, der im Schaufenster hängt. Heute hat sie Glück: Sie hat den Spiegel ganz für sich allein. Sie friert, denn obwohl es ein kühler September ist, trägt sie offene Schuhe und einen ganz dünnen Mantel. Doch sie ist zufrieden – «Wie Ava Gardner schaue ich aus, denkt sie sich.» – und sie überlegt sich, etwas Lippenstift aufzutragen. Da steckt der alte Halmisch den Kopf aus der Ladentür, grinst sie an, lobt ihren Rock und bittet sie hinein. Elli geht weiter und ärgert sich über den «Widerling» – und darüber, «dass es sie überhaupt interessiert, was der alte Glatzkopf zu ihr sagt».

Es ist Herbst 1949, die 21-jährige Elisabeth Kirschhofer ist in Salzburg auf dem Weg ins Café Wenninger, wo Soldaten in schicker amerikanischer Uniform mit den Frauen tanzen und trinken. Hier will Elli den «ersten Zipfel des Glücks» suchen – und tatsächlich scheint sie diesen mit Alexander Adam auch zu finden.

Über ein halbes Jahrhundert später, im Sommer 2003, steht Ellis Enkelin Eva vor demselben Schaufenster wie ihre Grossmutter damals und betrachtet sich im Spiegel. Sie sieht ein Mädchen, «dick wie eine weisse Made, mit grossen Schweissflecken unter den Armen». Gleich um die Ecke vom Kleider Harmisch ist eine gynäkologische Praxis. Dort wartet Dr. Huber und die Mutter Alexandra auf die Siebzehnjährige, und etwas später wird es sich für Eva anhören, als «würde der Dr. Huber mit einem riesengrossen Staubsauger in sie hineinfahren, als wäre sie ein Ding, das man aussaugen müsste, mit aller Kraft und Druck. Aussaugen, entfernen, ausschaben.»

Angst und Ungewissheit

In «Packerl» erzählt die österreichische Autorin Anna Neata eine Familiengeschichte über drei Generationen in Salzburg. In Zentrum stehen Elli, Alexandra und Eva – Grossmutter, Mutter und Tochter. Die Zeitspanne umfasst achtzig Jahre, von 1942 bis 2022 und Neata verknüpft die Geschichten der drei Frauen sowie die verschiedenen Zeitebenen elegant ineinander. Abwechselnd stellt sie eine der drei Frauen in den Mittelpunkt und erzählt in oft verschlungenen und doch vorwärtstreibenden Sätzen aus deren Leben unter Bedingungen, die sich über all die Jahre frappant verändern. Doch etwas zieht sich wie ein roter Faden durch all die Jahrzehnte: die ungewollte Schwangerschaft und der krasse Einschnitt, der eine solche für ein Frauenleben bedeutet. Das ungeduldige Warten auf die nächste Blutung, die panische Angst, wenn sie tatsächlich ausbleibt, die Ungewissheit, wie es nun weitergehen soll, die wochenlange Heimlichtuerei, die Scham, die Einsamkeit beim Entscheid – und schliesslich das Ende des erträumten Lebens.

Mit dieser Thematik hat sich die 1987 in Salzburg geborene Autorin bereits in ihrem Theaterstück «Oxytocin Baby» auseinandergesetzt. Dieses von der Kritik hochgelobte Musical wurde 2021 im Wiener Schauspielhaus uraufgeführt und erzählt von Fehlgeburten, «Engelmacher:innen», vom nicht erwünschten Mutterdasein sowie von nicht erfüllten Mutterwünschen.

Eine Abtreibung steht auch am Beginn von «Packerl»: Die vierzehnjährige Elli, die sich für die Versammlung des nationalsozialistischen Bund Deutscher Mädel hübsch gemacht hat, findet ihre ältere Schwester auf dem Küchentisch vor – das Blut läuft ihr zwischen den Beinen hinunter. Elli wiederum behält das Kind, das sie ein paar Jahre später nach wenigen Treffen mit Alexander im Bauch hat, und heiratet ihn. Doch das vermeintliche Glück ist von kurzer Dauer. Bald flieht sie mit ihrer kleinen Tochter Alexandra zurück ins Elternhaus, aus dessen engen Wänden sie unbedingt entkommen wollte, und in dem nicht nur ihre Tochter, sondern schliesslich auch ihre Enkelin Eva aufwachsen wird.

«Ich weiss nichts von euch»

Während die Väter in «Packerl» weitgehend abwesend sind, streiten die Töchter mit ihren Müttern oder schweigen die Mütter ihre Töchter hilflos an. «Ich hab euch wirklich lieb, aber ich weiss gar nichts von euch, nichts», wirft die Teenage-Tochter Eva der anwesenden Familie vor, als sie betrunken und viel zu spät zum sonntäglichen Mittagessen erscheint. Zwanzig Jahre zuvor, 1984, erntet Alexandra auf die Frage zur Nazi-Vergangenheit des Landes und der eigenen Familie nur Schweigen von ihrer Mutter Elli. Und als Alexandra sagt, dass jene, die Verbrechen begangen hätten, bestraft werden sollten und nicht mehr in der Politik sein dürften, entgegnet Elli: «Lächerlich». Und denkt bei sich, «wer denn bitte schön dann in die Politik gehen soll, wenn nicht die, die es einmal gelernt haben.»

Mit solchen Sätzen charakterisiert Neata nicht nur einzelne Personen, sondern sie stellt die Familiengeschichte immer wieder in einen grösseren politischen Kontext und thematisiert die praktisch nicht vorhandene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs.

Elli, Alexandra und Eva – alle drei haben ihr «Packerl» zu tragen. Wie das jede auf ihre eigene Art macht, wie sie als Frauen mit sich, ihrer Familie und dem Leben ringen – davon erzählt Anna Neata in diesem wunderbaren Buch, das sich, einmal in die Hand genommen, kaum wieder weglegen lässt.

Buchcover von «Packerl»
Anna Neata: «Packerl». Roman. Ullsteinverlag. Berlin 2023. 368 Franken. 34 Franken.