Erwachet!: Un abbraccio

Nr. 16 –

Michelle Steinbeck über Giorgia Melonis Reise nach Äthiopien

Was macht eine Ministerpräsidentin, deren Land tief in der Krise steckt? Sie fliegt in eine ehemalige Kolonie und spielt sich als Retterin auf.

Giorgia Melonis kürzlicher Besuch in Äthiopien wirkt wie eine Groteske. Das Ziel ist klar: Den Anschein erwecken, sich gegen Einwanderung zu engagieren, indem «dort» «geholfen» wird. Denn die katastrophale Lage im Mittelmeer verschärft sich weiter: 2023 sind bereits viermal so viele Migrant:innen an Italiens Küsten angekommen wie im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. Nicht mitgerechnet sind die 441 Menschen, die seit Januar auf der tödlichen Route ihr Leben verloren haben – so viele wie seit Jahren nicht mehr.

«Wir glauben, dass wir viel zur Entwicklung, Sicherheit und Stabilität dieses Landes beitragen können», verkündet also Meloni in Addis Abeba. Nach Treffen mit dem äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed und dem somalischen Präsidenten Hassan Scheich Mohamud verspricht sie, deren «Bitte» nachzukommen: Sie möchte ihre Fürsprecherin in den multilateralen Gremien wie der EU werden, deren Hilfe «die Region» so dringend brauche.

Der italienische «Plan für Afrika» hegt hehre Ziele. So behauptet Meloni beim Besichtigen einer äthiopischen Schule: «100 Prozent aller Kinder, die diese Schulen verlassen, finden eine Arbeit.» Grosse Worte der Führerin eines Landes, das im europäischen Vergleich mit 22,4 Prozent einen Spitzenplatz bei der Jugendarbeitslosigkeit belegt – im Süden des Landes sogar bis zu 50 Prozent – und dessen Auswanderungsquote deshalb so hoch ist wie zuletzt in den sechziger Jahren.

Es hat Tradition, dass, wenn es im Innern brenzelt, der Fokus nach aussen gerichtet wird. Bei Mussolini hiess das «faschistisches Imperium», bei Meloni «Investition und Präsenz». Sie möchte etwa Infrastruktur, Landwirtschaft und Tourismus fördern – kurz: «etwas dalassen». Angesichts des Schweigens um eine frühere italienische «Präsenz», die «in der Region» nicht nur gravierende Verwüstungen im Namen faschistischen Städtebaus hinterlassen hat, sondern gerade in Äthiopien schwerwiegendste Kriegsverbrechen mit Massenvernichtungswaffen und Hunderttausenden äthiopischen Todesopfern mit sich brachte (bei deren Verschleierung im Übrigen auch die Schweiz mithalf), klingt das mindestens zynisch.

Auf die Frage eines Journalisten, ob sie sich beim Staatsbesuch für die koloniale Vergangenheit entschuldigt habe, wie das vor ihr etwa Sergio Mattarella und sogar Silvio Berlusconi getan hätten, gibt sich Meloni schmallippig: «Ehrlich gesagt ist das Thema nicht aufgekommen.»

Ihren «Wunsch nach einer Zusammenarbeit, die nicht räuberisch ist», verbildlicht sie in schönster White-Saviourism-Manier: posierend in innigster Umarmung mit drei Schwarzen Schulkindern. Die italienisch-ghanaische Autorin und Aktivistin Djarah Kan schreibt dazu, dass sie als «ehemaliges kleines Schwarzes Mädchen, das selbst von den schlimmsten Faschisten geknuddelt wurde», eines gelernt habe: «Schwarze Kinder sind das liebste Stilmittel faschistischer Rhetorik, denn ihnen gegenüber Zärtlichkeit zu zeigen, bedeutet, eine erträglichere und zeitgemässere Erzählung zu konstruieren.» Kan konstatiert: «Eine obszöne Aufnahme. Als wäre nichts dabei, ein Foto mit der Zukunft zu machen, die man im Mittelmeer ertrinken lassen wird.»

Michelle Steinbeck ist Autorin.