Äthiopien: So tun, als sei alles wie immer
Der Bürgerkrieg rückt immer näher an die Hauptstadt heran. Die Regierung gibt dem Westen die Schuld dafür. Aber wie geht es den Menschen in Addis Abeba?
Der Taxifahrer Bekele Gebre hat seinen silbernen Toyota Corolla am Strassenrand geparkt, sich einen Kaffee bestellt und tut so, als sei alles wie immer. Es ist Ende November, am Nachmittag sind es in Addis Abeba 23 Grad, und Bekele zappt von einem Radiosender zum nächsten, während er auf einen neuen Auftrag wartet. «Überall reden sie über die westlichen Medien und darüber, wie sie die Rebellen unterstützen», sagt der 48-Jährige und deutet auf das Radio. «Früher mochte der Westen unseren Premier Abiy noch, aber jetzt wollen sie ihn loswerden – warum sonst sollten sie behaupten, dass die TPLF [Tigray People’s Liberation Front; Anm. d. Red.] kurz vor Addis stehe? Das ist eine totale Lüge. Sehen Sie nicht, wie sicher ich mich hier fühle?»
Währenddessen warten Menschen in langen Schlangen geduldig auf die klapprigen blau-weissen Kleinbusse, die sie durch den trägen Feierabendverkehr aus dem Stadtzentrum von Addis Abeba nach Hause bringen. In den Strassen mischt sich der Smog mit dem Geruch von Weihrauch, Kaffee und Bratfett, der von den kleinen Strassenkiosken herüberzieht. Und wenn es dunkel wird, hört man die orthodoxen Priester ihre Abendgebete durch die Lautsprecher rufen und von den Hügeln am Rand der Stadt die Schreie der Hyänen. Ein bisschen wirkt es in diesen Momenten, als hätten die Bewohner:innen der Stadt kollektiv beschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. So als hätte Bekele Gebre recht: Alles wie immer. Der Krieg ist weit weg. Und der Frieden nur eine Frage der Zeit.
Blockade von Nahrungsmitteln
Doch gewiss ist dieser Tage in Äthiopien nichts mehr. Seit über einem Jahr herrscht im zweitbevölkerungsreichsten Land Afrikas ein brutaler Bürgerkrieg, in dem Zehntausende getötet und mehr als zwei Millionen Menschen vertrieben wurden. Seitdem kämpfen die Rebellen der Tigray Defense Forces (TDF; der bewaffnete Arm der Partei TPLF), die bis 2018 selbst fast dreissig Jahre lang die Regierung in Äthiopien gestellt hatten, gegen die Regierungstruppen. Der TPLF geht es um Autonomie für die Region Tigray im Norden des Landes. Die Regierung um Premierminister Abiy Ahmed will das mit allen Mitteln verhindern und versucht seit Monaten, die Region auszuhungern, indem sie überlebenswichtige Nahrungsmittellieferungen nach Tigray blockiert. Um die Blockade zu brechen und Abiy zu stürzen, rückten die TDF mit ihren Verbündeten von der Oromo Liberation Army (OLA) in den vergangenen Wochen immer weiter auf Addis Abeba vor. Am 2. November hat die Regierung deshalb einen «Ausnahmezustand» verhängt. Dieser erlaubt es, dass die Polizei Personen verhaften kann, wenn der Verdacht besteht, dass sie die TPLF unterstützen.
Adanech Abiebie, die Bürgermeisterin von Addis Abeba, sagte auf einer Demonstration Anfang November: «Jeder sollte aufstehen, um seine Nachbarschaft zu schützen. Wir sollten die Polizei unseres eigenen Viertels sein, wir sollten seine Hüter und Verteidigungskräfte sein.» Nachts errichten seitdem junge mit Holzstöcken bewaffnete Männer und Frauen in orangen Warnwesten Checkpoints in ihren Stadtvierteln, an denen sie Autos anhalten und Ausweise kontrollieren. Tragen die Kontrollierten tigrayische Namen, müssen sie damit rechnen, festgenommen und der Polizei übergeben zu werden.
Zwei Welten in einer Stadt
Manchmal wirkt es zurzeit so, als würde Addis Abeba in zwei Welten gleichzeitig existieren. Die eine ist die von Bekele Gebre, in der Abiys Regierung vor allem gegen Fake News aus dem Westen kämpft, die andere ist die Welt von Sosina Berhane, die ihren richtigen Namen aus Angst nicht in der Zeitung lesen möchte, und anderen in Addis Abeba lebenden Tigrayer:innen. «Ich fühle mich nicht mehr sicher, wenn ich aus dem Haus gehe oder wenn ich am Telefon Tigrinya spreche. Ich misstraue inzwischen sogar Menschen, die ich seit Jahren kenne», erzählt die 28-Jährige bei einem Treffen.
Sosina ist in Addis geboren und aufgewachsen. Sie hat Freund:innen aller Ethnien, doch ob jemand Amhara, Oromo oder Tigrayer:in sei, habe in der Vergangenheit nie eine Rolle gespielt. Das hat sich geändert. Ihr Bruder wurde kurz nach Beginn des Krieges verhaftet, die Familie musste umziehen, doch sicher ist sie immer noch nicht. Vor kurzem wurden alle Vermieter:innen von der Regierung dazu aufgefordert, die Namen und Identitäten ihrer Mieter:innen an die Stadtverwaltung zu übermitteln. Erst vor wenigen Tagen seien weitere Verwandte verhaftet worden, erzählt Sosina Berhane. «Wir wissen nicht, wann sie vor unserer Tür stehen werden – aber ich bin mir sicher, dass sie wiederkommen, um auch den Rest von uns zu holen», sagt sie.
Genereller Terrorismusverdacht
Ein tigrayischer Jungunternehmer, mit dem wir für diese Recherche sprechen, sagt, er sei seit Beginn des Ausnahmezustands nicht mehr im Büro seiner Firma gewesen. Sein Vater habe ihn davor gewarnt, nach Hause zu kommen, aus Angst, die Polizei würde nach ihm suchen. Vergangene Woche sei sein Onkel bei einer Autokontrolle verhaftet worden. Angeblich, weil er zu viele Ausweispapiere gleichzeitig bei sich führte. «Das ist lächerlich, er hatte seine Steuer-ID, seine Wohnsitzbescheinigung, seinen Pass und seinen Führerschein bei sich, und sie haben ihm gesagt, dass ihnen das verdächtig vorkomme.» Bis heute wisse die Familie nicht, warum der Onkel seit einer Woche gefangen gehalten werde und wann man ihn wieder gehen lassen werde.
Es sind Geschichten wie diese, die sich dieser Tage in Addis Abeba hundertfach wiederholen. Mitte November gab die Uno bekannt, dass zehn ihrer Mitarbeiter:innen und 34 Fahrer:innen festgenommen worden seien. Einigen werde «indirekte moralische» Unterstützung einer Terrororganisation, wie die Regierung die TDF nennt, vorgeworfen.
Insgesamt sind laut den Vereinten Nationen seit Beginn des Ausnahmezustands mindestens tausend Tigrayer:innen in Addis Abeba verhaftet worden. Die tatsächlichen Zahlen werden um einiges höher geschätzt. Vielen scheint es so, als werde tigrayische Herkunft inzwischen gleichbedeutend mit Terrorismus gesehen – und als greife ausgerechnet jener Ethnonationalismus um sich, den die Regierung anfangs zu beenden versprochen hatte.
So ist Abiy Ahmed dabei, auch das Vertrauen derjenigen zu verspielen, die in ihm noch vor wenigen Jahren einen Hoffnungsträger sahen. «Ich hätte echt nicht gedacht, dass ich das jemals sagen würde: Aber ich denke inzwischen darüber nach, Äthiopien zu verlassen», erzählt ein junger Architekt. Wie viele junge Äthiopier:innen plant er, mit seiner Frau und seinen Brüdern nach Kenia zu ziehen – eines der wenigen Länder, in das Äthiopier:innen visafrei einreisen können –, bis die Krise vorbei ist. Wann das ist? «Keine Ahnung. Vielleicht in einem Monat, vielleicht in drei.»
Ein junger Mann, der im Kaffeeexport arbeitet, sagt: «Ich hasse die TPLF, und vielen Tigrayern ging das vor Beginn des Krieges nicht anders. Aber es ist Abiy, der die Eskalation zu verschulden hat, weil er zu Beginn des Konflikts sechs Prozent der Bevölkerung entmenschlichte, indem er die Tigrayer als ‹yek’eni jibochi› [Tageslichthyänen; Anm. d. Red.] bezeichnete.»
Die Mär vom antikolonialen Kampf
Statt eigene Fehler einzuräumen oder die vermuteten Kriegsverbrechen aufzuarbeiten, die beiden Kriegsparteien von den Vereinten Nationen zur Last gelegt werden, ist die Regierung in Addis Abeba dazu übergegangen, andere für die Eskalation des Krieges verantwortlich zu machen: die USA und den Westen. Allen voran die westlichen Medien. Vergangene Woche drohte das Medienministerium, BBC, CNN und den Nachrichtenagenturen Reuters und Associated Press die Akkreditierung zu entziehen, weil sie Hass unter der äthiopischen Bevölkerung säten und die Souveränität des Landes bedrohten. «Im vergangenen Jahr nutzte der Westen seine Medien und arbeitete unermüdlich daran, den Namen Äthiopiens zu verleumden», sagte die Bürgermeisterin von Addis Abeba in einer Rede. «Und heute sagen sie uns, um unser Volk und insbesondere die Einwohner von Addis Abeba zu terrorisieren, dass die Hauptstadt eingekesselt sei.»
Die Strategie scheint zu funktionieren. «Früher habe ich diesen Medien geglaubt», sagt etwa der Architekt, der auswandern will, «aber wenn sie schreiben, dass die TPLF vor den Toren von Addis stehe, dann stimmt das nicht.» Inzwischen fürchte er, dass die Medien mit dieser Berichterstattung eine US-Intervention wie einst gegen den ghanaischen Präsidenten Nkrumah oder den libyschen Diktator Gaddafi heraufbeschwören könnten. Auf Twitter trendet in Äthiopien derzeit der Hashtag #NoMore, in Anspielung auf andere US-Militärinterventionen weltweit. Auf Demonstrationen in Addis hielten die Menschen in den vergangenen Wochen Schilder hoch, auf denen stand: «BBC Stop Fake News on Ethiopia» oder «USA Stop Sucking Our Blood». Auch bei Demonstrationen in Südafrika, London und New York trugen Menschen Plakate mit der Aufschrift: «Hands off Ethiopia» oder «Say No to Neocolonialism».
Während die Regierung versucht, den brutalen Bürgerkrieg als antikolonialen Kampf zu verkaufen, weiss derzeit niemand wirklich, wie es um die Zukunft Äthiopiens bestellt ist. Am Wochenende wurde bekannt, dass die Rebellen der TDF-OLA mit Shewa Robit eine weitere Stadt eingenommen haben und nun 200 Kilometer von Addis entfernt sind. Am Montagabend kündigte Premierminister und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed an, er werde von Dienstag an sein Land von der Front aus lenken. «Ab morgen werde ich an die Front gehen und die Verteidigungskräfte dort anführen», schrieb er auf Twitter. Und es scheint so, als habe zumindest der Premierminister aufgehört, so zu tun, als sei alles wie immer. Als sei der Krieg weit weg. Und der Frieden nur eine Frage der Zeit.
* Name aus Sicherheitsgründen geändert.