Schauspielhaus Zürich: Wenn Hobbits Sneakers tragen

Nr. 18 –

Theater als begehbares Fest: In seiner Adaption von «Herr der Ringe» wagt das Zürcher Schauspielhaus eine konsequente Ästhetik der Partizipation. «Riesenhaft in Mittelerde» zeigt, was unter dieser Intendanz alles möglich gewesen wäre.

Foto vom Theaterstück «Riesenhaft in Mittelerde»
Immer dem Ring nach. Auch das Publikum spaziert durch die Inszenierung. Foto: Philip Frowein

Die programmatische Setzung von Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann bei ihrem Antritt im Herbst 2019 im Zürcher Schauspielhaus war deutlich: Nicht mehr nur die grosse Kunst hat auf den Bühnen Platz, Theater soll eine Politik des Sozialen werden. Die Premieren liefen an, und so ganz eindeutig entwickelte sich die Beziehung zwischen Programm und Publikum nicht.

Inzwischen hängen die Debatten der vergangenen Monate wie schaler Bühnennebel in der Luft und an diesem Premierenabend mit ihnen auch einige Fragen: nach der Zugänglichkeit von Theater, nach den politischen Versprechen und den Ästhetiken, die sich daraus ergeben. Für wen wird das Theater denn nun gemacht? Und immer wieder auch der Zweifel: War es kulturpolitisch richtig von der Stadt Zürich, der Kointendanz bereits nach drei Spielzeiten die Verlängerung zu versagen? Was hätte noch kommen können? Hätte, hätte.

Davon unbeirrt, hält auf den 850 Quadratmetern der Schiffbauhalle dieser Tage ein Fest Einzug. Zwischen verwachsenen Hütten, tollenden Hobbits und sprechenden Pilzen wartet in «Riesenhaft in Mittelerde» eine begehbare Welt aus Fantasy und Festival. Die Zürcher Mittelerde ist eine Dorflandschaft, in der das Schauspielhaus zusammen mit dem Theater Hora und dem Helmi-Puppentheater aus Berlin nicht nur eine Fan-Fiction-Nacherzählung, sondern die Gemeinschaft selbst inszeniert. Elben, Hobbits und Orks schlendern mit uns durch die Landschaft und entführen in die fantastische Welt von J. R. R. Tolkien. Der Mythos wird dabei so lustvoll erzählt, wie er auch auseinandergebaut wird. Sneakers und ein Touch Glitzer erinnern uns: Wir sind auch immer noch in Zürich. Der Performer des Hobbits Frodo gesteht, er sei von der ganzen Geschichte genauso überfordert wie Frodo selbst. Die Reise beginnt, aber der eigentliche Protagonist dieses Spektakels ist, das wird schnell klar: das Miteinander.

Abschweifen gewollt

Es ist eine riesige Produktion, um die zwanzig Darstellende kommen zusammen, überall sind Personen live am Filmen für die grossen Leinwände in der Halle. Dazu gesellen sich taumelnde Bäume und fantastische Echsen des Helmi-Puppentheaters, an jeder Ecke geschieht etwas. Aber die Reize, die uns überfluten, werden genauso programmatisch auch wieder abgefedert: An der Bar in der «Taverne zum Crazy Horst» gibt es Apfelsaft von der Migros und Bier aus der Dose, ein grün bemoostes Sofa lädt zum Ausruhen ein. Es ist eine entspannte Aufführung. Der Abend erwartet von niemandem völlige Aufmerksamkeit, bei Gesprächen, Getränken und beim Herumschlendern in der Dorflandschaft hat gedankliches wie körperliches Abschweifen Platz. So werden Konzentration, unbeirrte Wachsamkeit und andere Regeln, die wir sonst aus dem Theater kennen, in dieser zweieinhalbstündigen Reise nicht vorausgesetzt.

Konservativ argumentiert, könnte man den ganzen Abend auch als Defokussierung und Zersprengung betrachten. Das hiesse aber auch, sich letztlich gegen die Gleichberechtigung auszusprechen, die mit dieser Ästhetik einhergeht. Denn die gigantische mediale und spielerische Landschaft von «Riesenhaft in Mittelerde» impliziert für Darstellende und Besucher:innen: Jeder Umgang mit diesem Abend ist gleichberechtigt. Ob mittendrin, mit etwas Distanz von der Tribüne, gedanklich in Mordor oder völlig woanders: Das, was auf der Bühne geschieht, ist ein Ereignis unter vielen. Und damit ist die Inszenierung tatsächlich nicht weit entfernt vom antiken, dionysischen Urgedanken des Theaters, der sich auch noch in Shakespeares Globe Theatre erhielt: der Festgedanke und das Zusammenkommen als emanzipatorische Sprengkraft. Und denjenigen, die geradlinige Dramaturgien und stille Sitzanordnungen doch vermissen, flüstert der Abend unprätentiös zu: «Rezeptionsgewohnheiten sind hartnäckig, ich weiss! Aber komm, ich nehm dich an der Hand, wir machen das zusammen!»

Eine gewisse Wehmut

Die Produktion hat schliesslich etwas Entscheidendes verstanden: Partizipation lässt sich nicht erzwingen, sie ergibt sich aus Angeboten, Experimenten und Freiräumen. Sie braucht Zeit und Geduld. Und das kann, ja, vielleicht muss es sogar lustvoll, chaotisch und wild vonstattengehen. All das macht «Riesenhaft in Mittelerde» und gewichtet dabei den Versuch in all seiner Fehlbarkeit stärker als das künstlerische Ergebnis, im Wissen darum, dass jede Beurteilung letztlich auch von subjektiven Werten und sozioökonomischen Prägungen abhängt. Deutungshoheit ist eine Machtfrage. Genau davon befreit sich dieser Abend – und macht darin vor allem grossen Spass.

Vor dem Hintergrund der einseitigen Trennung von Stemann und von Blomberg spürt man an diesem Abend eine gewisse Wehmut. Zumindest denen, die der Intendanz Zeit und Vertrauen entzogen haben, dürfte die Inszenierung mitsamt ihren politischen Implikationen von Gemeinschaft und Aufrichtigkeit etwas wehtun. Hätte eine Inszenierung in dieser ästhetischen Konsequenz früher kommen müssen? Wäre es aber nicht angebracht gewesen, dass die Stadt dieser Intendanz mehr Zeit eingeräumt hätte? Kann dieser Abend womöglich nur deshalb so grenzenlos sein, weil er befreit ist vom politischen Druck, dem die Leitung in den letzten zwei Jahren ausgesetzt war? Es bleiben offene Fragen. Die grösste davon ist vielleicht, was hier alles noch möglich gewesen wäre.

Nächste Spieldaten: 5./11./16./17. Mai 2023, jeweils 19.30 Uhr, Schiffbau. www.schauspielhaus.ch