Träumen Hobbits von Orks? Über die Fantasie hinter der Fantasy.
«Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte.» Typisch Sigmund Freud. Für den Erfinder der Psychoanalyse korrigieren Fantasien eine Realität, die meist viel zu wünschen übrig lässt. Das wirft ein interessantes Licht auf die konsumförmigen Fantasien der Unterhaltungsindustrie. Ist das milliardenschwere Fantasygenre, sind «Der Herr der Ringe», «Harry Potter» und wie die Geschichten alle heissen, nur kapitalisiertes, korrigiertes Unglück? Und wenn man Freuds Einsicht auch gleich noch auf die Heerscharen von Leserinnen und Zuschauern überträgt: Sind auch sie bloss notorisch Unbefriedigte, die sich mit den Fantasien von Tolkien und Co. vom eigenen Unglück ablenken?
Kindheit der Literatur
Sicher ist: Freud hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Stunden an der Couch mit seinen oft sehr unbefriedigten Patient:innen verbracht und bekam dabei so viele geheime Fantasien zu hören wie kaum jemand zuvor. Nacherzählte Tag- und Nachtträume sind zentrales Rohmaterial der Psychoanalyse, Portale zum Unbewussten.
Freud dachte aber immer auch über zusätzliche Anwendungsfelder für seine neue Therapieform nach – und landete dabei nicht selten bei der Literatur. Im Aufsatz «Der Dichter und das Phantasieren» stellt er die These auf: Wer dichtet, wird wieder zum Kind. Und zwar zum spielenden Kind, das sich für die Dauer des Spiels vergnügt in seinen Luftschlössern verliert, die Aussenwelt komplett vergisst.
Willkommen zurück in der immer gleichen Wiederholungsschleife.
Je einfacher gestrickt die Literatur sei, desto näher dran sei sie an diesem süchtig machenden kindlichen Spiel, wie Freud betont. Und es ist kaum verwegen zu behaupten, dass das klassische Fantasygenre quasi die Kindheit der Literatur darstellt: Gut und Böse sind hier klar geschieden. Ein Held oder eine Heldengruppe hat eine Mission zu erfüllen, erlebt Abenteuer, und wenn diese Helden am Ende eines Kapitels schwer verwundet darniederliegen, wachen sie im nächsten Kapitel bestimmt wohl umsorgt und auf dem Weg zur Besserung wieder auf. Auch uns Leser:innen beschert die Fantasyliteratur eine ganze Kette solch lustvoller Wunscherfüllungen. Sie katapultiert uns zurück in das kindliche Lesen, als man manchmal, am Ende eines Buchs angekommen, gleich wieder von vorne anfing, um ja nicht aus der wohlig vertrauten Parallelwelt herauszufallen.
Und das ist natürlich auch die Crux.
Fantasy ist eine potente Psychodroge, Opium für die Massen. Mit allem, was die Psychoanalyse über Fantasien und Träume weiss: Fantasykonsum wird kaum dazu führen, dass man die unbefriedigende Realität, das Unglück, dem diese Fantasien entspringen, verändern wird. Im Gegenteil. Eine gewisse Grundträgheit ist womöglich die notwendige Basis fürs genussvolle, wiederholte Durchspielen gleichförmiger Abenteuerplots im eigenen Kopftheater. Erfüllt man sich nicht oft einen Wunsch im Kopf, um ihn in der Realität ruhen zu lassen?
Cosplayer:innen im Porträt

Nicht zuletzt dieser Mechanismus hat der Fantasy den Ruf eingetragen, ein konservatives bis reaktionäres Genre zu sein, das am Ende immer nur den Status quo bestätigt – oder sich gar einen Zustand davor zurückwünscht. Betrachtet man die Sache allerdings aus psychoanalytischer Warte, sind das Problem weniger die Fantasie und das Fantasieren selbst als vielmehr die Wiederholung des immer gleichen Inhalts dieser Fantasie.
Dies zeigt sich anschaulich bei den Hobbits aus «Herr der Ringe» und J. R. R. Tolkiens Plot rund um den Halbling Frodo auf seiner Mission mit dem Ring. Denn sind Hobbits nicht auch perfekte Abbilder des stereotypen Fantasyfans? Ihr Leben kreist ums Essen und Trinken, abends hocken sie am liebsten in der Kneipe, tagsüber pflegen sie ihre Gärtchen. Auch die Fantasiewelt dieser Halblinge ist simpel: Verschlägt das Schicksal sie in eine Abenteuermission, fantasieren sie vom ruhigen Leben im Auenland. Sitzen sie zufrieden im Auenland, werden sie bald wieder von vergangenen Abenteuern eingeholt. Dieser Fantasiekreislauf lässt sich in immer neuen Auflagen derselben Grundgeschichte trefflich ausschlachten. Und die Massen schauen bereitwillig zum 20. Mal mit zu, wie ein Hobbit loszieht, um stets ähnliche Abenteuer im Reich des Bösen zu bestehen.
Es gibt Hoffnung
Und doch birgt diese Gemengelage Möglichkeiten zum Ausbruch: Wenn sogar die Hobbits in der Idylle unruhig werden, besteht Grund zur Hoffnung. Hier manifestiert sich eine Langeweile im konservativen «einfachen Leben», eine brachliegende Energie von potenziell revolutionärer Qualität. Der Erfolg neuerer und originellerer Fantasygeschichten wie «Game of Thrones» zeigt zudem, dass sich die Gelangweilten nur zu gern in neue Geschichten stürzen, in denen alte Formeln gesprengt werden, etwa indem Hauptfiguren einfach sterben und auch andere Erwartungen kühn unterlaufen werden. Bloss fängt man nun auch im Universum von «Game of Thrones» mit der Ausbuchstabierung von Vorgeschichten an, wie die neue HBO-Serie «House of the Dragon» zeigt. Willkommen zurück in der Wiederholungsschleife!
Was wir also bräuchten, wäre ein Entzug von den alten Fantasien, gewissermassen eine therapierte Fantasy. Ausgang ungewiss. Dabei das Personal diverser zu machen, ist nie falsch. Vor allem aber müssen andere Geschichten erzählt, Regeln gebrochen, gut geölte Plots geopfert werden. Die spielenden Dichter:innen sollten neue Luftschlösser und Handlungsgerüste bauen, in denen die frisch gezeichneten Fantasygestalten und wir uns lustvoll verlaufen und vergessen können. Damit wir nicht immer wieder entweder in Mordor oder im Auenland landen.